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Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules

Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules

Titel: Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules
Autoren: Agatha Christie
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sie, wie oft ihr ein Mann vorschlage, mit ihm über das Wochenende nach Brighton zu gehen? Nur große Worte und Arbeit und das Wohl der Arbeiter und die Zukunft der Welt. Es ist sehr lobenswert, aber ich frage Sie, ist es amüsant? Und sehen Sie doch, wie grau und trübe diese jungen Leute die Welt gemacht haben! Nichts als Vorschriften und Verbote! In meiner Jugend war das ganz anders.«
    »Dabei fällt mir ein, wie geht es Ihrem Sohn, Madame?« Im letzten Augenblick hatte er sich besonnen und »Sohn«, statt »Kleiner«, gesagt, bedenkend, dass zwanzig Jahre vergangen waren.
    Das Gesicht der Gräfin strahlte vor Mutterliebe.
    »Der geliebte Engel! So ein großer Junge, solche Schultern, so gut aussehend! Er ist in Amerika. Er baut dort Brücken, Banken, Hotels, Warenhäuser, Eisenbahnen, alles, was die Amerikaner brauchen!«
    Poirot sah etwas verdutzt drein.
    »Also ist er Architekt oder Ingenieur?«
    »Das ist doch einerlei!«, versetzte die Gräfin. »Er ist bezaubernd! Er lebt für Brückenträger und Maschinen und so genannte Traversen. Lauter Dinge, von denen ich nie etwas verstanden habe. Aber wir beten einander an – wir beten einander immer an! Und ihm zuliebe liebe ich auch die kleine Alice. Ja, sie sind verlobt. Sie haben sich in einem Flugzeug oder auf einem Schiff oder in der Eisenbahn getroffen und sich ineinander verliebt, mitten in einem Gespräch über das Wohl der Arbeiter. Und als sie nach London kam, suchte sie mich auf, und ich nahm sie an meine Brust.« Die Gräfin kreuzte die Arme über ihrem üppigen Busen. »Und ich sage ihr: ›Du und Niki, ihr liebt euch – also liebe ich dich auch –, aber wenn du ihn liebst, warum hast du ihn in Amerika verlassen?‹ Und dann spricht sie über ihren Beruf und das Buch, das sie schreibt, und über ihre Karriere, aber offen gesagt, verstehe ich es nicht. Aber ich habe immer behauptet, dass man tolerant sein muss.« Dann fügte sie hinzu: »Und was halten Sie von meiner Schöpfung hier?«
    »Es ist sehr gut ausgedacht«, sagte Poirot und sah sich anerkennend um. »Es ist ausgesprochen chic!«
     
    Das Lokal war voll und strömte jene unverkennbare, unnachahmliche Atmosphäre des Erfolges aus. Es waren elegante Paare in Frack und Abendkleid da und Bohemiens in salopper Kleidung und dicke Herren in Straßenanzügen. Das Orchester, als Teufelschar verkleidet, spielte heiße Musik. Kein Zweifel, die Hölle fand Anklang.
    »Wir haben alle Gesellschaftsklassen hier«, erklärte die Gräfin, »und so soll es auch sein, nicht wahr? Die Tore der Hölle sind für alle geöffnet.«
    »Außer vielleicht für die Armen«, meinte Poirot.
    Die Gräfin lachte.
    »Sagt man nicht immer, dass es für die Reichen schwer ist, ins Himmelreich einzugehen? Dann ist es doch ganz natürlich, dass sie in der Hölle den Vortritt haben.«
    Der Professor und Alice kamen an den Tisch zurück. Die Gräfin erhob sich.
    »Ich muss mit Aristide sprechen.«
    Sie wechselte einige Worte mit dem Oberkellner, einem hageren Mephistopheles, und ging dann von Tisch zu Tisch, um mit den Gästen zu plaudern.
    Der Professor wischte sich die Stirn, nippte an seinem Glas und bemerkte:
    »Sie ist eine Persönlichkeit, nicht wahr? Die Leute spüren das.«
    Er entschuldigte sich und ging an einen anderen Tisch, um mit jemandem zu sprechen.
    Poirot, allein mit der gestrengen Alice, wurde etwas befangen, als er dem Blick ihrer kalten blauen Augen begegnete. Er bemerkte, dass sie eigentlich ganz hübsch war, aber er fand sie ausgesprochen beängstigend.
    »Ich kenne Ihren Familiennamen noch nicht«, flüsterte er.
    »Cunningham, Dr. Alice Cunningham. Sie haben Vera seinerzeit gekannt, nicht wahr?«
    »Es muss an die zwanzig Jahre her sein.«
    »Sie ist für mich ein sehr interessantes Studienobjekt«, erklärte Dr. Alice Cunningham. »Natürlich interessiert sie mich auch als die Mutter meines Verlobten, aber sie interessiert mich auch vom beruflichen Standpunkt.«
    »Wirklich?«
    »Ja, ich schreibe nämlich ein Buch über Kriminalpsychologie. Ich finde das Nachtleben an diesem Ort hier sehr lehrreich. Wir haben verschiedene Verbrechertypen, die regelmäßig herkommen. Sie wissen natürlich alles über Veras verbrecherische Neigungen – ich meine, dass sie stiehlt?«
    »Nun, ja – ich weiß es«, gestand Poirot etwas verblüfft.
    »Ich nenne es den Elster-Komplex. Sie nimmt immer nur glitzernde Gegenstände. Nie Geld. Immer Schmuck. Ich habe herausgefunden, dass sie als Kind verzärtelt und verwöhnt
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