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Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules

Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules

Titel: Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules
Autoren: Agatha Christie
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wurde, aber ängstlich behütet. Ihr Leben war unerträglich langweilig – langweilig und gefahrlos. Ihre Natur verlangte nach Dramatik. Sie sehnte sich nach Strafe. Das ist die Wurzel ihrer diebischen Veranlagung. Sie braucht das Aufsehen, den Eklat der öffentlichen Bestrafung!«
    Poirot widersprach:
    »Ihr Leben kann als Mitglied des Ancien Régime während der Revolution in Russland nicht so gefahrlos und langweilig gewesen sein.«
    Ein leicht belustigter Blick erschien in Miss Cunninghams blassblauen Augen.
    »Ah«, rief sie aus. »Ein Mitglied des Ancien Régime? Hat sie Ihnen das gesagt?«
    »Sie ist unleugbar eine Aristokratin«, sagte Poirot loyal und drängte gewisse unbehagliche Erinnerungen an stark divergierende Kindheitserzählungen der Gräfin zurück.
    »Man glaubt immer, was man glauben möchte«, bemerkte Miss Cunningham und warf ihm einen fachmännischen Blick zu.
    Poirot wurde Angst und Bange. Im nächsten Augenblick, fühlte er, würde man ihm seinen Komplex offenbaren. Er beschloss, den Krieg in das feindliche Lager zu tragen. Der Reiz der Gräfin Rossakoff bestand für ihn zum Teil in ihrer aristokratischen Vergangenheit, und er wollte sich diese Freude nicht von einem bebrillten kleinen Mädchen nehmen lassen mit Augen wie ausgelaugte Stachelbeeren und einem Doktordiplom der Psychologie.
    »Wissen Sie, was mich wundert?«, begann er nun.
    Alice Cunningham gab nicht ausdrücklich zu, dass sie es nicht wusste. Sie begnügte sich damit, eine herablassende, gelangweilte Miene aufzusetzen.
    Poirot fuhr fort:
    »Es wundert mich, dass Sie – die jung sind und hübsch sein könnten, wenn Sie sich die Mühe geben würden –, nun, es wundert mich, dass Sie sich diese Mühe nicht nehmen! Sie tragen ein Tweedkostüm mit großen Taschen, als würden Sie Golf spielen gehen. Aber das hier ist kein Golfplatz, sondern ein Keller mit einer Temperatur von fünfunddreißig Grad Celsius, und Ihre Nase ist heiß und glänzt, aber Sie pudern sie nicht, und Sie verwenden den Lippenstift achtlos, ohne die Form der Lippen nachzuziehen! Sie sind eine Frau, aber Sie lenken die Aufmerksamkeit nicht auf diese Tatsache. Und ich frage Sie, warum tun Sie es nicht? Es ist jammerschade!«
    Einen Augenblick lang hatte er die Genugtuung zu sehen, dass Alice Cunningham zum Leben erwachte. Er sah sogar Zorn in ihren Augen aufblitzen. Dann gewann sie ihre Haltung lächelnder Verachtung zurück.
    »Ich fürchte, mein lieber Monsieur Poirot, Sie haben keinen Kontakt zur modernen Ideologie. Es kommt auf die Tiefe an, nicht auf den Aufputz.«
    Sie blickte auf, als ein brünetter, sehr gut aussehender junger Mann auf sie zukam.
    »Das ist ein sehr interessanter Typ«, flüsterte sie eifrig. »Paul Varesco! Lebt von Frauen und hat sonderbare, verderbte Gelüste. Ich möchte, dass er mir mehr von einem Kindermädchen erzählt, das ihn betreute, als er drei Jahre alt war.«
    Einige Augenblicke später tanzte sie mit dem jungen Mann. Er tanzte wunderbar. Als sie an Poirots Tisch vorbeischwebten, hörte Poirot sie sagen: »Und nach dem Sommer in Bognor gab sie Ihnen einen Spielzeugkran? Einen Kran – ja, das ist sehr vielsagend.«
    Ein Weilchen spielte Poirot mit dem Gedanken, dass Miss Cunninghams Interesse für kriminelle Typen eines Tages dazu führen könnte, dass man ihren verstümmelten Leichnam in einem einsamen Wald auffinden würde. Er konnte Alice Cunningham nicht leiden, aber er war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass seine Abneigung daher rührte, dass sie von Hercule Poirot keine Notiz nahm. Seine Eitelkeit war verletzt.
    Dann sah er etwas, das ihn Alice Cunningham für den Augenblick vergessen ließ. An einem Tisch an der gegenüberliegenden Seite der Tanzfläche saß ein blonder junger Mann. Er war im Frack und benahm sich wie jemand, dessen einzige Sorge auf der Welt es ist, sich gut zu amüsieren. Ihm gegenüber saß das unvermeidliche Luxusgeschöpf. Er sah sie dumm und verliebt an, und jeder hätte bei dem Anblick des Paares sagen können: »Reiche Müßiggänger.« Nichtsdestoweniger wusste Poirot sehr gut, dass der junge Mann weder reich noch müßig war. Er war nämlich Detektivinspektor Charles Stevens, und es schien Poirot sehr wahrscheinlich, dass Detektivinspektor Stevens beruflich hier war…
     
    Am nächsten Morgen besuchte Poirot seinen alten Freund Oberinspektor Japp in Scotland Yard. Dessen Reaktion auf seine einleitenden Fragen war unerwartet.
    »Sie alter Fuchs«, schmunzelte Japp. »Wie Sie auf diese
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