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Die Ernte

Die Ernte

Titel: Die Ernte
Autoren: Amy Hempel
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Jeansstoff, und mit »übte« meine ich, dass Big Guy es einmal machte.
    Das war vor einer Woche, oder, anders ausgedrückt, es war am Tag, nachdem Mrs. Fitch es getan hatte. Nun bin ich Zeuge der Nähkunst ihres Sohnes, des Gebrauchs, den er von seiner Fertigkeit macht.
    Er erwartete mich an der Tür seines Zimmers mit einer Hand hinter seinem Rücken. Ich musste die Augen schließen, um Spannung aufzubauen, bevor er seine Hand hervor holte. Ich öffnete die Augen, und in diesem Moment krampfte sich mein Magen zusammen.
    Ich sehe, dass es dort, wo es scheint, als ob er zwei Finger zusammengenäht hat, schlimmer und zugleich nicht ganz so schlimm ist. Am äußeren Rand seines Daumens, in die Haut selbst genäht, steht buchstabiert in kleiner Blockschrift mein Name. Er steht dort Buchstabe für Buchstabe in straffem blauem Faden. Mein Name ist in die Haut seiner Hand genäht!
    Big Guy zeigt mir, dass er immer noch die Nadel mit dem Faden in der Hand hält. In meiner Gegenwart beendet er den letzten Stich, wobei er die Nadel langsam führt. Ich sehe dem blauen Faden zu, der ihr wie eine Vene nachzieht und milchig wird, als er die blutleere schwielige Haut durchtunnelt.
    Ich kann nicht nähen, aber man könnte schwören, dass meine Mutter einen Abschluss in Hauswirtschaft hat. Sie trägt zu Hause bevorzugt ein Hemdblusenkleid und nennt Klamotten »Bekleidung«. Sie macht Desserts, die Namen wie Apple Brown Betty tragen, und wenn sie diese serviert, in der Regel mit einer Form von Schlagsahne, sagt sie »N.I.D.K.«, eine Abkürzung für »Nachschub in der Küche«.
    Big Guy ist ihr verfallen, ihren Thunfischsandwiches auf weichem Weißbrot, ihrer rosafarbenen Limonade aus tiefgekühlten Konzentratdosen. Er schockiert meine Mutter gern, indem er ihr erzählt, was er ansonsten essen würde: Salzsandwiches, zum Beispiel, oder Fizzies und Space Food Sticks.
    Big Guy ist ein willkommener Gast. Bei mir zu Hause ist er der Mann im Haus – das ist der Ausdruck, den meine Mutter benutzt. Die längste Zeit meines Lebens war mein Vater schon tot. Wenn der Mann im Haus am Kopfende des Tisches sitzt, sind wir bei diesen Mittag- und Abendessen wieder mehr eine Familie.
    Big Guy kocht Mais, indem er die offene Dose auf die Herdflamme stellt. Er erzählt meiner Mutter, dass er zum Frühstück Milch in die Pappschachteln des Kelloggs-Minisortiments gießt. Seit seine Mutter gestorben ist, habe ich ihn eine Gurke dünsten sehen, weil er sie für eine Zucchini hielt. Das ist die Art von Dingen, bei der sich mir das Herz umdreht.
    Eine Sache, die er zubereiten
kann
, ist Schmelzkäsesandwich, aufgeklappt und im Bratgrill geschmolzen. Das hat er seiner Mutter gebracht, als sie krank war. Er brachte ihr zwei Monatsrationen Schmelzkäse.
    An jenem Tag habe er ihr eins gebracht, sagt Big Guy.
    »Das letzte, was ich zu ihr gesagt habe«, erinnert sich Big Guy, »war, ‚Mom, rat’ mal, was die andern in der Schule haben?‘ Ich hab’ ihr gesagt, ‚Sonnenbrillen‘, und sie hat gesagt, ‚Dafür musst Du sparen‘.«
    Big Guy wollte wissen: und ich?
    »Du warst doch da«, erinnere ich ihn. »Erinnerst du dich an ihr Haar?«
    Das letzte, das ich zu Mrs. Fitch gesagt hatte, war, dass mir ihr Haar gefiel. Big Guy hatte mir vorgeworfen, dass ich versuchte, mich bei ihr einzuschleimen, aber es war wahr – mir gefiel ihr Haar.
    Später – wie, ist eine lange Geschichte – bekam Big Guy eine Kopie des Autopsieberichts zu sehen. Der Gerichtsmediziner beschrieb Mrs. Fitchs kastanienbraunes Haar als »auf weibliche Weise getragen«.
    Ich mache Hausaufgaben im Bett, trinke Ginger Ale und mir ist ein bisschen flau. Ich schaue mir ein Buch über französische Grammatik an, denn gibt es irgendwas Cooleres, als in einer Fremdsprache zu sprechen? (»Dites-moi«, sagt Big Guy immer zu mir, wenn ich ein Problem habe.)
    Ich blättere um und sehe, dass Big Guy zuerst dort gewesen ist. Er liest nicht nur meine Post, sondern schreibt auch auf die Ränder meiner Bücher, in der Regel die Zahl der Einkaufstage, die noch bis zu seinem Geburtstag bleiben.
    Hier in der französischen Grammatik hat Big Guy, warum auch immer, geschrieben: »Punkte sind Flecken von Nahem. Flecken sind Punkte von Weitem.«
    Ich lese das, und dann ist er in meinem Zimmer. Big Guy kann das tun – in mein Zimmer kommen, wenn ich im Bett bin. Vor ein paar Jahren wurden die Mädchen in der Schule gezwungen, einen Film namens
Was an dir am meisten Mädchen
ist anzusehen. Ich war nach Hause
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