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Die Ernte

Die Ernte

Titel: Die Ernte
Autoren: Amy Hempel
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Neoprenanzug schaute auf mein Bein. Er fragte mich, ob es ein Hai gewesen wäre; es gäbe Sichtungen von großen Weißen entlang dieses Küstenabschnitts.
    Ich sagte, ja, das sei ein Hai gewesen.
    »Und du gehst wieder rein?«, fragte der Junge.
    Ich sagte: »Und ich gehe wieder rein.«
    Ich lasse vieles aus, wenn ich die Wahrheit sage. Gleiches gilt, wenn ich eine Geschichte schreibe. Ich werde jetzt anfangen, Ihnen zu erzählen, was ich aus »Die Ernte« herausgelassen habe, und vielleicht beginne ich auch, mich zu fragen, warum ich es herauslassen musste.
    Es gab kein anderes Auto. Es gab nur das eine Auto, das mich traf, als ich hinten auf dem Motorrad des Mannes saß. Aber man denke nur an die sperrigen Silben, wenn man
Motorrad
sagen muss.
    Der Fahrer des Autos war Zeitungsreporter. Er arbeitete für eine Lokalzeitung. Er war jung, hatte gerade seinen Abschluss gemacht, und war auf dem Weg zu einem Gewerkschaftstreffen, um über einen angedrohten Streik zu berichten. Wenn ich geschrieben hätte, dass ich damals Journalismusstudentin war, hätten Sie das in »Die Ernte« vielleicht nicht akzeptiert.
    In den folgenden Jahren hielt ich nach dem Namen des Reporters unter Zeitungsartikeln Ausschau. Er brachte die Story über den People’s Temple, die zu Jim Jones’ Flucht nach Guyana führte. Dann berichtete er über Jonestown. In der Lokalredaktion des
San Francisco Chronicle
wurden die Opferzahlen, als sie auf neunhundert stiegen, wie Spenden bei einer Benefizgala ausgerufen. Irgendwo bei ein paar Hundert wurde ein Schild aufgehängt, auf dem stand: JUAN CORONA, ERBLASSE VOR NEID.
    In der Notaufnahme erforderte das, was mit einem meiner Beine geschah, nicht vierhundert Stiche, sondern nur etwas über dreihundert. Ich übertrieb schon, bevor ich überhaupt anfing, zu übertreiben, denn es ist schon wahr – nichts ist jemals ganz so schlimm, wie es hätte sein können.
    Mein Anwalt war keine Rechtsverspätung. Er war Teilhaber bei einer der ältesten Anwaltskanzleien der Stadt. Er hätte nie sein Hemd aufgemacht, um eine Akupunkturstelle zu zeigen, denn das war etwas, dem er sich nie unterzogen hätte.
    »Heiratsfähigkeit« lautete der ursprüngliche Titel von »Die Ernte«.
    Der Schaden an meinem Bein wurde als kosmetisch betrachtet, obwohl ich heute, nach fünfzehn Jahren, immer noch unfähig bin, mich hinzuknien. In einer außergerichtlichen Einigung am Abend vor der Verhandlung wurden mir fast 100.000 Dollar zugesprochen. Die Kfz-Versicherung des Reporters stieg um 12,34 Dollar pro Monat.
    Mir wurde vorgeschlagen, dass ich mein Bein mit Eis einreiben solle, um die Narben hervortreten zu lassen, bevor ich drei Jahre später meinen Rock für das Gericht hochzog. Aber in der Richterkammer gab es kein Eis, sodass ich nicht die Chance bekam, diese moralische Prüfung zu bestehen oder an ihr zu scheitern.
    Der Mann der Woche, dem das Motorrad gehörte, war nicht verheiratet. Aber als Sie glaubten, dass er eine Ehefrau hatte, war ich da nicht verpflichtet, etwas zu tun? Und hatte ich es nicht verdient?
    Nach dem Unfall heiratete der Mann. Das Mädchen, das er heiratete, war Model. (»Glaubst du, dass Aussehen wichtig ist?«, fragte ich den Mann, bevor er ging. »Anfangs nicht«, sagte er.)
    Zusätzlich dazu, dass sie eine Schönheit war, war das Mädchen mehrere Millionen Dollar schwer. Hätten Sie das in »Die Ernte« akzeptiert – dass das Model auch noch eine Erbin war? Wahr ist, dass wir auf dem Weg zum Abendessen waren, als es passierte. Aber der Ort, an dem man alles sehen kann, ohne sich etwas davon anhören zu müssen, war kein Strand an einer Bucht; es war der Gipfel des Mount Tamalpais. Wir hatten das Abendessen dabei, als wir die gewundene Bergstraße hinauffuhren. In dieser Version ist Platz für vollkommene Ironie, also wird es Sie nicht stören, wenn ich sage, dass ich in den nächsten paar Monaten von meinem Krankenhausbett aus eine direkte, spektakuläre Sicht auf genau diesen Berg hatte.
    Diesen nächsten Teil hätte ich mit in die Geschichte geschrieben, wenn irgendjemand ihn geglaubt hätte. Aber wer hätte ihn geglaubt? Ich war dort und glaubte es nicht.
    Am Tag meiner dritten Operation gab es einen Ausbruchsversuch aus dem an den Todestrakt angrenzenden Hochsicherheits-Bereich im San Quentin-Gefängnis. »Soledad Brother« George Jackson, ein neunundzwanzigjähriger Schwarzer, zog eine herein geschmuggelte 9 mm-Pistole, schrie »Das war‘s!« und eröffnete das Feuer. Jackson wurde getötet;
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