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Die Ernte

Die Ernte

Titel: Die Ernte
Autoren: Amy Hempel
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Vinyllederstuhl, den er an mein Bett herangezogen hatte. Was er mit Aussehen meinte, war, wie viel mein Verlust dessen in einem Rechtsstreit wert war.
    Ich merkte, dass der Anwalt gerne Rechtsstreit sagte. Er erzählte mir, dass er drei Anläufe gebraucht hatte, bis er die Zulassung bekommen hatte. Er sagte, dass seine Freunde ihm schick geprägte Visitenkarten geschenkt hatten, jedoch hieß es dort, wo auf diesen hübschen Karten Rechtsvertretung stehen sollte, auf seinen Karten Rechtsverspätung.
    Verdienstausfall hatte er bereits abgedeckt; dass ich jetzt keine Stewardess bei einer Airline mehr werden konnte. Dass ich noch nie darüber nachgedacht hatte, eine zu werden, war unerheblich, sagte er, rechtlich gesehen.
    »Da ist noch etwas«, sagte er. »Wir müssen hier über Heiratsfähigkeit sprechen.«
    Die Tendenz war zu sagen, Heirats-bitte-was? obwohl ich schon wusste, was er meinte, als ich es zum ersten Mal hörte.
    Ich war achtzehn Jahre alt. Ich sagte: »Erst mal, reden wir nicht eigentlich über Datefähigkeit?«
    Der Mann der Woche war schon fort, der Unfall hatte ihn zurück zu seiner Frau gesteuert.
    »Glaubst Du, dass Aussehen wichtig ist?«, fragte ich den Mann, bevor er ging.
    »Anfangs nicht«, sagte er.
    In meiner Nachbarschaft wohnt jemand, der Chemielehrer war, bis eine Explosion ihm das Gesicht nahm und übrig ließ, was übrig blieb. Der Rest von ihm ist ordentlich in dunkle Anzüge und polierte Schuhe gekleidet. Er trägt seine Aktentasche auf den Collegecampus. Welch ein Trost – seine Familie, sagten die Leute – bis seine Frau die Kinder nahm und auszog.
    Im Solarium zeigte mir eine Frau ein Foto. Sie sagte: »So sah mein Sohn mal aus.«
    Meine Abende verbrachte ich auf der Dialysestation. Wenn eine Liege frei war, hatte niemand etwas dagegen. Es gab Breitbildfarbfernsehen, besser als in der Reha. Mittwochabends schauten wir eine Sendung, in der Frauen in teuren Kleidern in verschwenderischen Kulissen auftraten und versprachen, einander zu ruinieren.
    Auf einer Seite von mir saß ein Mann, der immer nur in Telefonnummern sprach. Fragte man ihn, wie es ihm ging, sagte er: »924-3130.« Oder er sagte: »757-1366.« Wir ahnten schon, was das für Nummern sein konnten, aber niemand gab den Groschen aus.
    Manchmal saß auf der anderen Seite von mir ein zwölfjähriger Junge. Seine Lider waren dick und dunkel von den Blutdruckmedikamenten. Er war der Nächste auf der Transplantationsliste, sobald – das Wort, das gebraucht wurde, war
Ernte
– sobald eine Niere geerntet wurde.
    Die Mutter des Jungen betete für betrunkene Autofahrer.
    Ich betete für Männer, die keine Unterschiede machten.
    Sind wir nicht alle, dachte ich, jemandes Ernte?
    Wenn die Stunde vorüber war, rollte mich eine Stationsschwester zurück in mein Zimmer. Sie sagte dann: »Warum sich diesen Quatsch angucken? Warum nicht einfach mal fragen, wie mein Tag gelaufen ist?«
    Vor dem Schlafengehen verbrachte ich fünfzehn Minuten damit, Gummigriffe zu drücken. Eins der Medikamente ließ meine Finger steif werden. Der Arzt sagte, dass er es mir so lange geben würde, bis ich meine Bluse nicht mehr zuknöpfen könne – für jemanden in einem Baumwollnachthemd eine amüsante Redewendung.
    Der Anwalt sagte: »Gemeinnützige Arbeit.«
    Er knöpfte sein Hemd auf und zeigte mir die Stelle, an der ein Akupunkturmensch seine Brust mit Colasirup betupft, dann vier Nadeln versenkt und ihm gesagt hatte, dass die wirkliche Heilung gemeinnützige Arbeit sei.
    Ich fragte: »Heilung für was?«
    Der Anwalt sagte: »Unerheblich.«
    Sobald ich wusste, dass es mir wieder gut gehen würde, war ich mir sicher, dass ich tot war, ohne davon zu wissen. Ich glitt durch die Tage wie ein abgetrennter Kopf, der noch einen Satz beendet. Ich wartete auf den Augenblick, der mich aus meinem scheinbaren Leben reißen würde.
    Der Unfall war bei Sonnenuntergang passiert, also fühlte ich mich zu dieser Tageszeit am stärksten so. Der Mann, den ich in der Woche zuvor kennengelernt hatte, fuhr mich gerade zum Abendessen, als es passierte. Der Ort war der Strand, ein Strand an einer Bucht, über die man schauen und die Lichter der Stadt sehen kann, ein Ort, an dem man alles sehen kann, ohne sich etwas davon anhören zu müssen.
    Lange Zeit danach ging ich selbst an diesen Strand. Ich steuerte das Auto. Es war der erste schöne Strandtag; ich trug Shorts.
    An der Brandungskante wickelte ich den Stützverband ab und watete in die Wellen. Ein Junge in einem
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