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Die Ernte

Die Ernte

Titel: Die Ernte
Autoren: Amy Hempel
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auf die Couch im Familienzimmer, im Dunkeln. Big Guy findet den Oldie-Sender auf dem alten Zenith meiner Mutter. Die Musik ist leise; man müsste sich anstrengen, um den Text zu hören, wenn man nicht, wie ich, den Text schon kennen würde.
    Dann sind da wir beide, wie wir in der schwülen Dunkelheit sitzen. Big Guy surrt mit dem Radio mit, ich kratze die Mückenstiche, die ich immer habe. Nach ein paar solcher Minuten verschwindet Big Guy im Badezimmer. Er kommt mit einer kleinen rosafarbenen Flasche zurück. Er singt: »You’re gonna need an ocean / of calamine lotion«, während er sie auf die heißen weißen Stiche tupft.
    Ich sage ihm, dass er sie zuerst kühlen sollte, also bringt er die Flasche in die Küche. Er öffnet den Kühlschrank und ruft mich, ich solle mal schauen.
    Er zeigt mir eine Motte, die von der einzelnen Lampe angezogen wurde. Ihre Flügel schlagen wild in der kalten Luft; sie schleifen über die unbedeckte Butter, bestäuben den Schokoladenpudding, streifen die Lippenstiftabdrücke am offenen Ende einer Milchtüte.
    Wir versuchen, das Ding herauszuholen, aber es flattert hinter ein Glas mit Weizenkeimen und von dort in das Gemüsefach. In diesem Moment schließt Big Guy die Tür.
    »Ich hab eine andere Idee«, sagt er. »Warte auf der Couch auf mich.«
    Er kommt mit einer Rasierklinge zurück. Er sagt: »Das wird den Juckreiz stillen.« Er zieht die Klinge zwei Mal über einen Stich auf der Rückseite meines Handgelenks; das winzige X wird rot, als Blut aus der eingeschnittenen Oberfläche kommt.
    Ich bin zu erstaunt, um etwas zu sagen, also macht Big Guy weiter und ritzt Xe in die Stiche an meinen Beinen und Armen.
    Jetzt, denke ich –
jetzt
könnten wir Blutsbrüder werden.
    Aber das ist nicht das, was Big Guy denkt, und schließlich erkenne ich das. Ich unterziehe mich seiner kruden Heilkunst, bis er ein X in einen Stich auf meiner Schulter schneidet. Plötzlich senkt er den Kopf, und nicht mehr die Klinge, sondern sein Mund berührt meine Haut.
    Ich war nur einmal zuvor geküsst worden. Der Kerl hatte mich an die Kinder erinnert, die den Hahn ganz in den Mund nehmen, wenn sie aus einem Wasserspender trinken. Als ich mich von ihm gelöst hatte, hatte dieser Bursche gesagt: »Zwei plus.«
    Big Guy wird mich küssen.
    Hier ist der Kick meines kurzen Lebens: Er tut es.
    Und ich weiß, dass es wie eine Fahrt zum Strand war, sich so lange nicht zu berühren, eine Fahrt mit hochgekurbelten Fenstern, sodass sich die Wellen so viel kälter anfühlen.
    Als ich mich orientieren kann, spiele ich herunter, was passieren könnte. Ich sage den coolen Satz, den ich mir aufgespart habe; ich sage: »Lass das, Big Guy. Lass das noch weiter.«
    Dann sagt er den coolen Satz, den
er
sich aufgespart hat, oder den er sich, weil er ja Big Guy ist, gerade ausgedacht hat. Er sagt: »Ich gebe einer Frau immer, was sie will – ob sie es will oder nicht.«
    Jetzt ist Schluss mit dem Rumalbern; wir lassen es raus. Wir nehmen die ganze Länge der Couch ein und winden uns wie Maden in Asche.
    Ich bin nicht bereit hierfür, aber ich denke mir: Er ist ein Junge ohne Mutter.
    Ich blicke über mein eigenes Zögern hinaus; ich finde meine Mutter, Big Guys Vater. Wir sind genauso für unsere frisch und auf immer verwitweten Eltern auf dieser Couch.
    Big Guy und ich sind noch angezogen. Ich blute aus den aufgeritzten Stichen durch meine Kleider, als Big Guy sein Knie zwischen meinen Beinen nach oben schiebt.
    »Wenn du aufstehen musst«, sagt er, »lass’ es.«
    Ich lasse alles ablaufen, was mir vor diesem Moment passiert ist. Ich will Big Guy fragen, ob es ihm auch so geht. Ich will, dass er weiß, was mir klar wird: Wenn es wahr ist, dass dein Leben vor deinen Augen vorbeirast, bevor du stirbst, ist es auch die Wahrheit, dass dein Leben voran stürmt, wenn du bereit bist, wirklich zu leben.

TIEFENRAUSCH
    Ich war die, die geschickt wurde, als Halloweenabend war und Miss Locey sich nicht bewegen konnte. Ich bin keine Krankenschwester. Ich bin nicht mal eine Schreibkraft. Aber sie brauchte mich nicht zum Tippen, und auch nicht meine Hand, deren Kurzschrift kaum reichte. Sie hatte mich stundenweise von einer Agentur gemietet, um am Halloweenabend Süßigkeiten auszugeben.
    Denn sehen Sie, wie das ausgesehen hätte: Auto in der Einfahrt, Licht im Obergeschoss. Aber niemand geht an die Tür. Ich weiß, was ich als Kind getan hätte, wenn jemand am Halloweenabend zu Hause gewesen wäre, der sich nicht dazu bequemte, an die Tür
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