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Die Ernte

Die Ernte

Titel: Die Ernte
Autoren: Amy Hempel
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Gutenachtsagen wieder hinaufging, machte ich Miss Locey eine Tasse Tee. Ich trug sie nach oben, und während sie einen Scheck ausschrieb, drehte ich die Lautstärke eines Samstagsfilms auf. 2
    Miss Locey dankte mir fürs Kommen und bat mich, auf dem Weg nach draußen das Verandalicht zu löschen.
    Auf dem Weg nach draußen tat ich noch eine weitere Sache. Mit der gewohnheitsmäßigen Kleptomanie der Zeitarbeit ließ ich die übrigen Halloweensüßigkeiten in meine Tasche fallen, zusammen mit Büroklammerschachteln und Tesafilm-Ersatzrollen.
    Ich war zu Hause, bevor ich mich erinnerte, wo ich die Fernbedienung liegen gelassen hatte, dass sie außerhalb von Miss Loceys Reichweite war. Laut Fernsehzeitung endete das Programm von Miss Loceys Kanal um zwei Uhr. Wenn sie bei der Statik schlafen konnte, würde sie um fünf von einem Fernseh-Fitnesskurs geweckt werden. Sie würde die Augen öffnen und Frauen in bunten Strumpfhosen sehen, die alle noch an ihrem Teil ihrer Abkommen mit Gott arbeiteten.

DU JOUR
    Die ersten drei Tage sind die Schlimmsten, sagt man, aber es sind jetzt schon zwei Wochen, und ich warte immer noch darauf, dass die ersten drei Tage vorbei gehen.
    Nach einem Tag im Programm wurde mir klar, dass das Einzige, was mich klug machte, Nikotin war. Jetzt kann ich nicht einmal mehr einen Ausflug vom Bett ins Badezimmer planen. In 50 Prozent der Fälle finde ich die Haustür nicht. In meinem Kopf ist ein kaputter Balkon, von dem ich hinunterfalle, wenn ich spreche.
    Aber besser am Leben und gesund und nicht denkend als denkend und rauchend und tot.
    Das ist der Punkt, den ich erreicht habe: Aufhören zu rauchen, sonst. Der Punkt heißt auch: Aufhören zu rauchen, oder meinen Job verlieren.
    Ich mache Suppe in einem Laden, in dem es zweiundfünfzig verschiedene Sorten davon gibt. Ich habe sie alle zur ein oder anderen Gelegenheit schon zubereitet; seit Kurzem koche ich nur noch die Tagesspezialität. Ich mache Mulligatawny und senegalesische Suppe – solche, die man wegen des Klangs ihrer Namen kosten möchte.
    Eines Tages rief mich der Besitzer zu sich und zeigte mir die Schüsseln, die seine Kunden hatten zurückgehen lassen. Er sagte: »Es is’ die Würze, Schätzchen. Es is’ die Chili-Menge.«
    Ich wusste, dass ich hierbei falsch lag; sein wir ehrlich – drei Päckchen am Tag machen deine Geschmacksknospen fertig. Aber ich nehme Kritik nicht an, also falle ich im nächsten Augenblick über Mr. Licalsi her.
    »Na und?«, schrie ich. »Na und! Dann schmeckt denen also das Scheiß-Gazpacho nicht!«
    Und Mr. Licalsi, der sagte: »Herrgott, Mädchen – und mit
dem
Mund
isst
du?«
    Manchmal ticke ich persönlichkeitsmäßig aus, weil ich nicht weiß, was ich statt rauchen machen soll. Ich nehme natürlich zu; das tut jeder. Aber nicht, weil ich von irgendetwas mehr esse. Ich nehme zu, weil ich aufgehört habe, zu husten. Husten war Training für mich.
    Durch das Gewichtsproblem habe ich Mrs. Wynn kennengelernt. Sie ist im Gewichtskontrollteil des Programms, und ich sah sie beim wöchentlichen Wiegen. Wie hätte ich sie übersehen können? Sie war laut und wuchtig, und sie trug ein taubenblaues T-Shirt, auf dem in marineblauen Buchstaben stand: DAS LEBEN IST UNSICHER – ISS SCHON MAL DEN NACHTISCH. Ich hörte, wie sie einer anderen Esssüchtigen erklärte, was Bariatrie ist, wie Frauen von unten nach oben zunehmen und von oben nach unten ab.
    Mrs. Wynn und ich kamen ins Gespräch, denn wir waren nun mal beide da. Sie erzählte mir, dass dies ihr erster ernsthafter Diätversuch war, seit in den Sechziger Jahren Metrecal auf den Markt gekommen war.
Das
war ein Flop gewesen, sagte sie, denn für eine Verbraucherin wie sie war nicht klar gewesen, dass man Metrecal
anstelle
von Mittag- und Abendessen zu sich nahm.
    Das Programm, das die Klinik überwachte, würde einen garantiert als gebrochene Hülle zurückzulassen, sagte sie, »aber als
dünne
gebrochene Hülle.«
    Mrs. Wynn ist Sängerin in einem Supper Club. Ihrem Mann gehört der Club Volare, wo an drei Abenden in der Woche, nach der Band, die italienische Evergreens spielt, nach dem griechischen Tänzer und der Bronx-/israelischen Schnulzensängerin, nach der Bauchtänzerin und dem Solo des Bouzouki-Spielers, nach dem multitalentierten spanischen Mädchen und einer kurzen Pause Mrs. Wynn Lieder singt, die sie in vier Sprachen schreibt. Früher waren es sechs Abende in der Woche – genauso wie es früher fünftausend Kalorien am Tag waren und es jetzt
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