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Die Ernte

Die Ernte

Titel: Die Ernte
Autoren: Amy Hempel
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Ringen.
    »Ein Ring für jede Hand an meinem Finger«, sagte Miss Locey. Sie berichtigte sich mit einer komischen Geste. »Ich bin einfach so entspannt«, sagte sie.
    Sie ließ ihr Knie los und ließ ihr Bein nach unten gleiten.
    »Die Ringe haben meiner Mutter gehört«, sagte Miss Locey. »Zumindest, bevor ich sie ihr abgeluchst habe.«
    Sie wedelte eine juwelenbesetzte Hand langsam durch die Luft, als würde sie Nagellack trocknen lassen.
    »Meine Mutter hatte die Hände dafür«, sagte Miss Locey. »Lange Finger und mandelförmige Nägel, keine halbmondförmigen, keine Adern sichtbar an ihren Händen. Meine Mutter sprach fünf Sprachen.
    Eines Tages fragte ich sie, wie man ‚Du darfst alle meine Ringe haben‘ auf Spanisch sagt. Als sie es mir sagte, fragte ich sie, wie man es auf Französisch sagt. Ich ließ sie in allen fünf Sprachen ‚Du darfst alle meine Ringe haben‘ sagen.
    Meine Mutter war eine faire Verliererin«, sagte Miss Locey. »Sie gab mir die Perlen auf der Stelle und den Rest, als sie starb.«
    Miss Locey, die immer noch auf dem Rücken lag, hielt ihre Arme gerade vor sich. Dadurch sah sie aus, als würde sie sich aus einem Sarg erheben, um Spuken zu gehen. Stattdessen machte sie eine Inventur der Ringe ihrer Mutter und deren Kräfte, wie der Granat das Herz erfreute und den Geist stärkte, wie der Smaragd Dummheit austrieb und verzankte Liebende versöhnte, wie ihre Perlen, wenn man sie mahlte und mit Fleisch kochte, Fieber und Schüttelfrost heilten. Sie trug einen Zirkon, »einen minderwertigen Diamanten«, um Reichtümer und Ehre zu erwerben. Die Edelkoralle heilte Verdauungsstörungen, so sagte sie.
    Die Steine, die Miss Locey nicht trug, waren Opal und Onyx. Ersterer, sagte sie, sei verhängnisvoll für die Liebe, und der Onyx, in der Farbe der Dunkelheit, hielt einen wach.
    Ich dachte, dass dies hier mir lieber war als jedes Horoskop, als Miss Locey ihren Lieblingsstein beschrieb.
    »Der Topas«, sagte sie. »Er heilt Wahnsinn und klärt den Verstand. Pulverisiert und in Wein gegeben heilt er Schlaflosigkeit. Er wurde von Seeleuten verwendet, die keinen Mond hatten«, sagte sie.
    An dieser Stelle hatte ich das Gefühl, ich hätte im Monat des Topas geboren sein sollen. »Von Seeleuten verwendet, die keinen Mond hatten.«
    »Lassen Sie mich mal sehen«, sagte Miss Locey und langte nach dem gehämmerten Goldreif, der der einzige Ring ist, den ich trage.
    Ich zog ihn nicht ab – ich ziehe diesen Ring nicht ab – aber ließ sie meine Hand nehmen. Sie drehte sie um, sodass die Handfläche nach oben zeigte.
    »Er hat hier und da Dellen«, sagte sie. »Wie viel hat er – achtzehn Karat?«
    Ich sagte ihr, dass die Dellen von den Zähnen eines Mannes kamen. Davon, wie er in das Gold biss, um mir zu zeigen, wie weich, und dann in meinen Finger biss, um mir zu zeigen, wie weich.
    Der Ring war ein Geschenk von diesem Mann. Aber er wurde nie zu einem Hochzeitsring, weil der Mann starb, bevor wir zum Heiraten kamen. Im Urlaub, auf einer Insel, begann er mit dem Flaschentauchen. Er tat es ohne Aufsicht, obwohl er es vorher noch nie gemacht hatte. Er ging tiefer, als man das je tun sollte; das machte ihn leichtfertig, wurde mir gesagt – und war der Grund, warum er nicht daran dachte, wieder nach oben zu kommen.
    Ich erzählte Miss Locey, dass ich immer noch darauf wartete, von dem Gott zu hören, der mich verraten hatte. Eine Erklärung wäre nicht genug. Eine Entschuldigung wäre nicht genug. Dieser Gott müsste zu mir aufsehen, sagte ich. Er müsste den Kopf ganz nach hinten legen, um zu mir aufzusehen, und seinen Hals entblößen.
    »Vielleicht sollten sie eine von diesen hier nehmen«, sagte Miss Locey. »Sie sehen nicht sehr entspannt aus.«
    Dann sagte ich Miss Locey, wie das, was beim Tauchen passiert war, genannt wurde, dass Taucher es »Tiefenrausch« nannten. Und sie sagte, was ich die ganze Zeit gedacht hatte, nämlich, dass es seltsam ist – dass es unheimlich ist – wenn etwas Schlimmes einen hübschen Namen trägt.
    Sie sagte es selbst. Sie sagte: »Tiefenrausch.« Sie sagte, für sie klänge es »als würde man in Liberaces 1 Mantel eintauchen, zu lange darunter bleiben und beim Hochkommen Rubine und Perlen aushusten.«
    Sie verdrehte ihre Ringe.
    Sie trug Steine zum Schutz vor Trunkenheit und Furcht.
    Es klingelte zum letzten Mal an diesem Abend. Ich ging hinunter. Anstatt jedem der Kinder einen Schokoriegel zu geben, ließ ich jedes eine Handvoll zusammenraffen.
    Bevor ich zum
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