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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds /
Autoren: Friedrich Ani
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verabschieden.
    Warum er erschossen worden sei, wollte sie wissen, und Funkel sagte, das sei ein tragischer Unfall gewesen, den der junge Mann, der ihn verursacht habe, bitter bereue.
    Waltraud Anz lebte in Berlin auf der Straße, und wie es dazu gekommen war, erklärte sie ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie damals von einem Tag auf den anderen aus Freising weggegangen war und ihren Sohn zurückgelassen hatte.
    August Anz hatte ein Armengrab auf dem Ostfriedhof bekommen, gleich neben dem seines Freundes Frank Oberfellner. Funkel begleitete Waltraud Anz dorthin, und sie blieb stumm vor dem Grab stehen, zwanzig Minuten lang. Drei Stunden später setzte sie sich in den Zug und fuhr zurück nach Berlin, ohne noch ein weiteres Wort mit Funkel gesprochen zu haben.
    Für die beiden jungen Kommissare Lars Rossbaum und Pit Gobert, die Gustl Anz als Erste vernommen und ins Dezernat mitgenommen hatten, war der Besuch dieser alten, verwahrlosten Frau ein weiterer dunkler Mosaikstein in dem noch immer unfassbaren Bild, das dieser Fall für sie ergab; zwei Männer mussten sterben, weil ein kleiner Junge von zu Hause weggelaufen war, und die Polizei hatte machtlos zusehen müssen. Immer wieder versuchten Rossbaum und Gobert sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn sie sich anders verhalten hätten, wenn sie mit Anz anders umgegangen wären, ihn weniger eingeschüchtert und ihm mehr Vertrauen geschenkt hätten. Sie steigerten sich in abstruse Selbstvorwürfe hinein und kamen wochenlang nicht zur Ruhe.
    Ihr Chef Volker Thon empfahl ihnen schließlich, Überstunden abzubauen und ein paar Tage auszuspannen. Er tat dasselbe – und kam selbst nicht zur Ruhe. Noch immer war völlig unklar, warum der schwer verletzte Frank Oberfellner anstatt Hilfe zu holen sich an die Couch geklammert hatte und dort verblutet war; die Tatwaffe, das Küchenmesser, blieb unauffindbar. Heilfroh darüber, dass sein Kollege den Jungen gefunden und gerettet hatte, rang Volker Thon damit, sich bei Süden für seine harte Haltung zu entschuldigen und Südens vorläufige Suspendierung aufzuheben. Doch alles, was er zu Stande brachte, war ein Fax, das er nach Helgoland schickte und in dem er sich in knappen Worten für die Rettung des Jungen bedankte. Alles Weitere würde man regeln, wenn Süden wieder in München sei, mit freundlichem Gruß …
    Und Süden faxte zurück, dass er mit dem Jungen noch ein paar Tage Ferien machen wolle, die er ihm höchstpersönlich, in seiner Funktion als Staatsbeamter, zubilligte, auch wenn in Bayern bereits wieder die Schule begonnen habe, mit freundlichem Gruß …
    Er sprach mit Raphael über Gustls Tod, und der Junge weinte nicht, sondern blickte zum Himmel hinauf. Doch es war heller Tag, es waren keine Augen zu sehen.
    Auch versuchte Süden, über Raphaels Eltern zu sprechen. Als er damit anfing, hielt sich der Junge die Ohren zu und lief weg. Von Funkel hatte Süden erfahren, dass Thomas Vogel einen Streifenbeamten mit einer Fahrradkette angegriffen und ihn beschuldigt habe, die Polizei hätte seinen Sohn gekidnappt. Daraufhin hatte die Leiterin des Jugendamtes Kontakt mit Kirsten Vogel aufgenommen und ihr vorgeschlagen, gemeinsam mit ihrem Sohn vorübergehend in ein Frauenhaus zu ziehen. Kirsten hatte abgelehnt. Süden überredete Raphael, mit seiner Mutter zu telefonieren, und die beiden unterhielten sich ein paar Minuten lang in kargen Worten. Kirsten war stumm vor Glück darüber, dass Raphael noch lebte, und sie ermahnte ihn, beim Schwimmen im Meer vorsichtig zu sein und nah am Ufer zu bleiben.
    Wäre er nicht nach Helgoland gekommen, dachte Süden, hätte sich Raphael von den Klippen gestürzt, aber August Anz wäre noch am Leben. Was hätte er tun können, um ihn ebenfalls zu retten? Er konnte nur einen Weg auf einmal gehen, und er hatte sich entschieden, unbewusst, unwiderruflich. Warum hatte der junge Polizist geschossen? Wohin hätte Anz fliehen sollen? Bis zum Ende der Landungsbrücke? Warum war er überhaupt weggelaufen?
    Einen Nachmittag lang sah Tabor Süden, von Touristen misstrauisch beäugt, vom Lummenfelsen aus reglos übers Meer. Er lehrte seinen Schatten das Verschwinden.
     
    Jetzt stand er aufrecht auf dem linken Bein im warmen Sand, den rechten Fuß an den Oberschenkel gedrückt, die Arme erhoben, die Hände gefaltet – so wie im Taginger Wald, nur dass hier der Blick bis zum Horizont reichte.
    »Toll«, sagte Raphael, der eine blaue Badehose und einen Strohhut trug. »Und der Asfur ist
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