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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds /
Autoren: Friedrich Ani
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bald. Immerhin verbrachten sie nun schon einen Urlaub zusammen, das wäre mit diesem Faulpelz von Frankyboy nie möglich gewesen, der wollte nie verreisen, der war ein Stubenhocker, außerdem war er geizig. Wozu eigentlich? Man kann nichts mitnehmen, wenn man stirbt. ’tschuldigung, so hab ich das nicht gemeint, ’tschuldigung, Alter, ’tschuldigung.
    »Warum war denn dein Großvater so ein großer Fan von Helgoland?«, fragte er, um die Gedanken zu verscheuchen, die wie Fledermäuse in seinem Kopf hingen und an seiner Schädeldecke nagten, das spürte er, und das war ekelhaft.
    »Mach den Fernseher an!«
    »Nein.«
    Zornig rutschte Raphael unter die Decke und rührte sich nicht mehr.
    »Komm da raus, du erstickst sonst noch«, sagte Gustl, trank die Flasche aus und öffnete die nächste. Wenn er trank, kam er auf
andere
Gedanken, und die machten ihn leichter.
    »Wenn wir wollen«, sagte er, stand auf, setzte sich aufs Bett und hielt die Flasche mit beiden Händen fest, »können wir von Helgoland aus nach Island fahren, das ist eine Insel im Norden, oder nach Finnland, da ist es ein halbes Jahr lang hell und ein halbes Jahr lang dunkel.«
    »Und wie ist es da jetzt?«, fragte Raphael unter der Bettdecke.
    »Jetzt ist es hell«, sagte Gustl, er war überzeugt davon. »Komm wieder raus, ich mag das nicht, man muss sich anschauen, wenn man miteinander spricht, weißt du das nicht?«
    »Nein«, sagte Raphael und streckte den Kopf hervor. Seine hellbraunen Haare waren schweißverklebt.
    »Wenn dein Großvater noch nie hier war, warum hat ihm die Insel dann so gut gefallen?«
    »Bist du doof!«, sagte Raphael, schlug die Decke zur Seite und zog die Beine an; er war barfuß. »Wir haben alles nachgebaut, den roten Felsen und sogar den Leuchtturm, und eine Brücke für den Wunderzug Silbernase, der kommt nämlich überall hin, auch nach Helgoland. Mein Opa hat eine Freundin, und die ist schon oft in Helgoland gewesen, und deshalb weiß mein Opa genau, wie’s hier aussieht, der braucht gar nicht erst hier sein, der kann sich das vorstellen, das kannst du nicht, aber mein Opa kann das. Und ich kann das auch! Und jetzt muss ich los!«
    Er sprang aus dem Bett und zog sich in Windeseile seine Schuhe und die rote Jeansjacke an, die er diesmal von zu Hause mitgenommen hatte.
    »Wo willst du denn hin, Raphael? Du kannst doch jetzt nicht einfach weggehen!« Gustl stellte die Bierflasche auf den Boden und baute sich vor dem Jungen auf. »Das ist viel zu gefährlich, wenn dich jemand sieht! Wir müssen vorsichtig sein, das weißt du doch!«
    »Du hast gesagt, die Polizei erwischt uns nicht! Hast du gesagt!«
    »Ja, das hab ich gesagt, und … und das stimmt auch. Aber das fällt doch auf, wenn so ein kleiner Junge allein hier rumläuft und …«
    »Ich bin kein kleiner Junge, und du darfst mir gar nichts befehlen, weil du bist nämlich nicht mein Vater!« Er knöpfte seine Jacke zu und schob sich an Gustl vorbei, der ihn festhielt.
    »Raphael, du kannst machen, was du willst, ich hab dich gern, ich verbiete dir nichts, und ich befehl dir auch nichts, das würd ich nie machen. Aber ich bin verantwortlich für dich, ich hab dir geholfen, unauffällig aus München rauszukommen, und ich hab dich nie im Stich gelassen, oder? Siehst du. Wo willst du denn jetzt hin? Es ist doch schon dunkel.«
    »Ich will spazieren gehen.«
    »Dann komm ich mit.«
    »Nein.«
    »Warum denn nicht?«
    »Weil ich das nicht will! Weil … weil ich komm ja auch gleich wieder, ich geh zu der Brücke, da, wo wir angekommen sind, ich hör so gern das Wasser und die weißen Vögel, das ist ja gleich da vorn, ich bin gleich wieder da, ehrlich …«
    »Ich weiß nicht …«, sagte Gustl. Er war vollkommen ratlos; etwas an Raphaels Blick machte ihm Angst, und er konnte nicht sagen, was es war. Es war, als sei es nicht länger der Blick eines Kindes, sondern der eines Mannes, der eine undurchschaubare Absicht verfolgte, der etwas plante, das niemand wissen durfte.
    »Bitte«, sagte Raphael, »ich komm gleich wieder, und dann erzählst du mir eine Geschichte. Du bist nämlich ein guter Geschichtenerzähler.«
    »Wirklich?«, sagte Gustl. Das hatte noch nie jemand zu ihm gesagt. Und dabei erzählte er dauernd Geschichten, jeden Abend im Wirtshaus hatte er Geschichten erzählt, und zwar ununterbrochen, was hätte er sonst tun sollen? Dem Blödmann von Frankyboy fiel ja nie was ein, alles musste man selber machen! Natürlich war er ein guter Geschichtenerzähler, er
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