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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds /
Autoren: Friedrich Ani
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daraufhin einen weiteren Mann vor, der still auf dem Boden lag. Es war der Polizist, dem Schröder befohlen hatte, Wache zu halten. Jetzt war er bewusstlos.
    Tabor Süden war verschwunden.
     
    Er rannte die steile Treppe zum Felsplateau hinauf, und sein Herz raste wie die Zeit, die er verfluchte.

18
    Das Glück der Lebenden
    D reihundert Meter vor dem Abgrund hörte er etwas krachen, irgendwo in der Ferne, in der Dunkelheit des Hafens, und er dachte nicht weiter darüber nach. Er rannte einfach weiter. Weil er schwitzte, öffnete er seine Jacke, und sie flatterte an ihm wie ein roter Flügel, und er breitete sofort die Arme aus. Die Lummen würden staunen, denn die waren bloß schwarzweiß.
    Der Leuchtturm schickte einen Lichtstrahl wie einen riesigen Finger über die Insel und das Meer, und Raphael sah den Finger über sich kreisen.
    Auf einmal hatte er unbändige Lust zu springen, und er sprang. Und die Erde löste sich unter ihm auf, und er warf den Kopf in den Nacken, wie er es manchmal beim Streetball machte, nachdem er einen Korb geworfen hatte, und der schwarze Himmel war nicht mehr schwarz, sondern blau, hellblau wie an den Tagen, an denen er mit seinem Großvater an der Isar entlang gelaufen war und Steine in den Fluss geschleudert hatte, flache Steine, die über das grüne Wasser hüpften, und einmal hatte sein Großvater angefangen zu singen, das hatte er vorher noch nie getan, er sang ein Lied auf Englisch, und er, Raphael, stimmte mit ein und ahmte die Worte nach und hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten. Sie sangen gemeinsam unter dem blauen Himmel, und sein Großvater sagte, so einen Himmel gibt es nur in München, und jetzt war er hier, der Himmel, hier, über ihm und nah. Und wie von selbst begann Raphael zu singen wie an jenem Tag an der Isar und fühlte sich geborgen wie in einer Umarmung.
    Er landete direkt vor der Absperrung, so weit war er von der Wiese aus gesprungen. Er rutschte aus und rollte auf den steilen Abhang zu. Erschrocken griff er nach dem Metallpfosten, an dem die Drahtseile befestigt waren, die quer zur Felskante verliefen und den Aussichtspunkt begrenzten. Kurz bevor er den Halt verlor, hielt er sich mit Händen und Beinen fest und rappelte sich wieder hoch.
    Seine Angst dauerte nur ein paar Sekunden. Die Abschürfungen an den Armen und im Gesicht waren ihm egal, die Wunden brannten, er spürte den Schmerz und sah das Blut auf den Boden tropfen, und ihm war eiskalt; doch all das war nichts im Vergleich zu der Stimme seines Großvaters, die vom Meer her kam mit einem Lied, das er schon einmal gehört hatte, und er wusste sofort, wie es ging.
    Er zwängte sich unter dem Drahtseil hindurch, umfasste es mit beiden Händen, lehnte sich dagegen und blickte hinunter in die Tiefe, wo das schwarze Wasser gegen den Felsen schlug und auf ihn wartete. Jetzt hatte er die Insel gesehen und für seinen Opa mitgeschaut, was dem verborgen geblieben war, er würde ihm alles erzählen, von dem großen schaukelnden Schiff, von den kleinen Booten mit den starken Männern, die die Leute packten und an Land hoben, von den roten Felsen und davon, dass es keine Eisenbahn gab, keinen Wunderzug Silbernase, dafür schrien die weißen Vögel lauter als an der Isar. Und noch viel mehr wollte er ihm erzählen, das würde ihm dann schon einfallen, wenn sie endlich wieder zusammen waren.
    Ich lass jetzt los, sagte er, und der Finger des Leuchtturms wischte über ihn hinweg, ich lass jetzt los, und du musst mich auffangen und mir sagen, was Lummen sind, jetzt mag ich nicht mehr allein sein.
    Dann beugte er sich nach vorn, und seine rechte Hand ließ das Seil los, und der Wind wirbelte seine Haare auf, und langsam lösten sich die Finger der linken Hand, und er machte den Mund weit auf. Tränen schossen ihm in die Augen, und er beugte den Oberkörper, um den die rote Jacke stürmisch flatterte, noch weiter vor, und dann ließ er los.
    Und eine kalte Pranke hielt ihn fest.
    Seine Schuhe schlitterten über den Kies, rutschten ihm von den Füßen, fielen in die Tiefe und schlugen platschend im Wasser auf. Raphael zappelte mit den Beinen und versuchte sich loszureißen und konnte nicht verstehen, wieso er nicht von der Stelle kam. Die Pranke ließ nicht locker, der Junge fuchtelte mit dem Arm und schlug nach hinten und fuchtelte ins Leere. Raphael hing über dem Abgrund, nur sein linker Arm kam nicht frei, und er schrie: »Opa! Opa, lass mich los, lass mich los!«
    Aber Tabor Süden dachte nicht daran, ihn
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