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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds /
Autoren: Friedrich Ani
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herunter. Alle, die gestorben sind, sehen zu uns herunter.«
    Raphael blickte nach oben, wo die Sterne funkelten.
    »Das sind ihre Augen, siehst du sie? Und zwei davon sind die Augen deines Großvaters. Er ist immer da, er wacht über dich, er passt auf dich auf.«
    »Aber da oben ist es ganz dunkel«, sagte Raphael und suchte nach den großen Augen seines Großvaters.
    »Ja, es ist dunkel, aber sie haben keine Angst. Ihre Augen sind wach und furchtlos. Schau, wie sie glitzern, wie sie strahlen.«
    »Und welche sind die von meinem Opa?«
    »Das weiß ich nicht. Aber wenn du lang genug hinschaust, wirst du sie erkennen. Du kannst jede Nacht hinaufsehen, und eines Nachts wirst du genau wissen, welche Augen die seinen sind.«
    »Weiß nicht.« Raphael bewegte den Kopf hin und her, sein Blick huschte durch die Dunkelheit wie der Strahl des Leuchtturms.
    »Meine Mutter ist auch dort oben«, sagte Süden. »Sie sieht mich an. Das da sind ihre Augen.«
    »Wo?«
    »Da!« Er zeigte nach oben. »Und mein bester Freund Martin ist auch dort, aber seine Augen habe ich noch nicht gefunden.«
    »Warum nicht?«
    »Weil es noch nicht lange her ist, seit er gestorben ist, und ich hab noch nicht genug Zeit gehabt, seine Augen zu suchen.«
    »Schade«, sagte Raphael und schaute in den Himmel. Dann senkte er den Kopf und sah Süden mit ernster Miene an. »Dann ist mein Opa gar nicht richtig tot?«
    »Dein Opa ist gestorben, so wie wir alle sterben werden. Aber das Wunderbare ist, wir brauchen uns deswegen nicht zu fürchten, wir gehen nicht verloren. Wir sind nicht allein, siehst du, der Himmel ist da, die Erde ist da und das Meer, und wir gehören auch dazu, wir tauchen auf und dann verschwinden wir wieder und dann tauchen wir wieder auf. Es ist gar nicht so schwer zu leben, wenn man das weiß.«
    »Weiß nicht.«
    Süden nickte und lächelte, während tief unter ihnen monoton die Wellen schlugen.
    Raphael dachte nach. Er dachte an den Himmel und an den Friedhof, auf dem er sich versteckt hatte, an Gustl und Frank, die gut zu ihm gewesen waren und ihn nicht geschlagen hatten, an seine Mutter, die nie Hunger hatte, an seinen Vater, der immer böse mit ihm war, an Aras, seinen Freund, an Sunny, seine Freundin, und an den Wunderzug Silbernase, mit dem man übers Wasser fahren konnte. Und dann dachte er daran, wie er vorhin vom Felsen springen wollte. Und jetzt verstand er, warum es so kribbelte in ihm, von den Füßen bis zum Hals: Das war, weil er so froh war, hier zu sein, und weil er dieses Gefühl noch nie gehabt hatte, und er überlegte fieberhaft, was es bedeutete.
    Dann stand er auf, sah auf Tabor Süden hinunter und dann zum Himmel hinauf, hob den Arm und fing an zu winken.
    Er winkte so lange, bis ihm der Arm zu schwer wurde, und dann winkte er mit dem anderen Arm, und am Ende winkte er mit beiden Armen. Wie jemand, der am Bahnhof lange Abschied nimmt und sich nicht darum kümmert, dass er längst allein ist auf dem Bahnsteig.
    Dann legte er Tabor Süden die Hand flach auf den Kopf und ließ sie lange dort.
    Mutvoll machten sie sich auf den Rückweg.

Epilog
    A m 23. September, acht Tage nachdem Hauptkommissar Tabor Süden dem neunjährigen Raphael das Leben gerettet hatte, schien über Helgoland die Sonne, als wäre sie vom sommerlangen Warten ausgehungert; zwar gab es immer noch Regenschauer, die sich jedoch so schnell wieder auflösten, wie sie gekommen waren; das Meer war achtzehn Grad warm, und auf dem Südstrand der Düne spielten die Urlauber Volleyball, sprangen ins Wasser oder lagen einfach nur da und bewunderten das Gemälde des Himmels.
    An diesem Tag, als auf der Helgoländer Düne ein nur mit einer Badehose bekleideter Mann unvermittelt von seiner Bastmatte aufsprang und mit einer eigenartigen Turnübung begann, fragte eine alte Frau in einem dicken, fusseligen Mantel im Dezernat 11 der Münchner Kriminalpolizei nach Kriminaloberrat Karl Funkel, dessen Namen sie in der Zeitung gelesen hatte. Sie stellte sich ihm als Waltraud Anz vor und zeigte ihm ihren Pass mit den Worten, sie sei die Mutter des getöteten Gärtners August Emanuel Anz, woraufhin Funkel meinte, er habe angenommen, sie sei bereits gestorben.
    Die Frau, die sich weigerte, ihren Mantel abzulegen und einen Kaffee zu trinken, erwiderte, sogar ihr eigener Sohn habe das geglaubt, und vielleicht wäre es auch besser so. Doch als sie zufällig vom Tod ihres Sohnes erfahren habe, habe sie noch einmal nach München kommen müssen, um sich von ihm zu
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