Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
die Augen seiner Frau. Vigdis war zu weit weg, als dass er ihre geliebten grünen Augen tatsächlich hätte sehen können, doch das Band zwischen ihnen war stark. Vigdis sah zu ihrem Mann hinüber. Sie verstand …
All die Jahre hatte sie in Angst und Schrecken vor diesem Augenblick gelebt.
Selbstverständlich hatte sie nicht genau gewusst, was ihr Mann genau tat, doch ihr war dennoch bewusst gewesen, dass er sich auf einem schmalen Grat bewegte – und nun einem Abgrund entgegenstürzte …
Und Tor?
Niemand kannte seine Geheimnisse, nicht einmal Lodur.
Doch Tors Beweggründe waren Vigdis nur zu gut bewusst. Alle hatte er im Ungewissen gelassen, alle hatte er getäuscht, nur Vigdis hatte seinen Hass auf Oden und dessen Machenschaften gespürt.
Bis zu diesem Tag vor so vielen Monaten.
Sie hatte es in Lodurs Augen gesehen. Ihr Sohn hatte Stellung bezogen – gegen Oden – und seine Maske für einen wildfremden Jungen fallen lassen.
Einen Jungen, den er nur mit der Hilfe seines Vaters retten konnte …
Vigdis wusste nicht weshalb, aber sie spürte es – ihrem Mann war nicht mehr zu helfen. Ihr Herz sagte es ihr.
Doch Tor …
Ihr Innerstes erzitterte vor Angst.
Der Mann, der bewegungslos neben Kunar lag, war groß, muskulös und hatte lange, braune Locken. Seine Fylgja, ein Wolf, lag vor seinem Körper auf der Lauer – ein einsamer Kämpfer, das spürte Biarn sofort. Seine Blicke glitten zu Tora, die ihren wilden Kampf gegen zwei Bärsärker verloren hatte, und schließlich zu Kunar.
Kunars Augen drückten eine stumme Bitte aus: Hilf ihr!
Biarn nickte kurz. Er sah zu Tora und zu der jungen Frau mit dunkelblonden Haaren und irisblauen Augen.
»Ich habe den Befehl, die Gefangenen höchstpersönlich zu Oden zu eskortieren!«, sagte Biarn in Befehlston.
Die vier Bärsärker wollten sich schon seinem Befehl beugen, doch Munin sah Biarn kalt an.
»Das glaube ich kaum«, sagte er schneidend. Seine Stimme ließ Biarn erzittern. Dann fing sein außergewöhnliches empathisches Gespür die Angst seiner Mutter auf!
Vergessen waren die Gefangenen und Munin, der mit einem grausamen Lächeln auf den Lippen zu seinem Herrn hinauf zur Burg von Fensal blickte.
Biarn drehte sich hastig um, und in einem Bruchteil einer Sekunde erfasste er die Situation.
Seine Mutter starrte mit schreckerweiterten Augen zu ihm hinab. Ihre Gefühle waren für ihn wie ein offenes Buch, und was er darin las, ließ ihm den Schreck in den Knochen fahren.
Lodur, dem Tod geweiht!
»Nein!«, schrie Biarn wie von Sinnen und schleuderte mit gewaltiger Kraft ein Gewitter in Odens Richtung, das sich in hellen Blitzen an der Brüstung von Burg Fensal entlud.
Doch Odens Kräfte über die Naturgewalten wendeten das Unheil ab. Wie an einem Käfig mit unsichtbaren Gitterstäben wurden Biarns Blitze abgeleitet und schlugen stattdessen im Gemäuer der Burg sowie auf dem großen Marktplatz ein. Die Menschenmenge versuchte sich schreiend in Sicherheit zu bringen.
Das dumpfe Grollen und das Knallen der sich entladenen Kräfte erschütterten Burg Fenlsal bis in die Grundmauern. Die Erde erbebte. Menschen und Tiere flüchteten in Panik über den Marktplatz gen Mörkveden.
Biarn sammelte erneut seine Kräfte. Ein grelles Licht umhüllte ihn, die Atmosphäre schien zu glühen. Mit schnellen Bewegungen versuchte er, alle vier Elemente um sich zusammenziehen und todbringende Waffen aus Feuer und Eis formen – doch da warf ihn eine gewaltige Kraft zu Boden!
In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er von zwei Seiten in die Zange genommen wurde. Eine erschreckende Erkenntnis dämmerte ihm: Munins Kräfte standen jenen Odens um nichts nach!
Biarn wusste, dass es um alles ging. Seine Fylgja stürzte sich auf Munin und prallte an ihm ab. Der enorme Räsvälg flog eine Schleife und griff von Neuem an. Seine Willenskraft war ungebrochen, doch er konnte Munin nichts anhaben.
Doch weshalb attackierte seine Fylgja diesen Zwilling überhaupt? Fylgjen kämpften nur gegen andere Fylgjen …
Und plötzlich verstand Biarn.
Sie waren eins! Oden war Munin! Und Munin war Oden, oder zumindest ein Teil von ihm.
Und während ein erschreckender Gedanke in seinem Kopf Form annahm, spürte Biarn wie ihm die unendliche Kraft, die ihn auf den Boden presste, die Luft zum Atmen raubte …
Hinter der Brüstung von Burg Fensal sackte Lodur unter unvorstellbaren Qualen zusammen. Seine Schmerzensschreie wurden von den panisch kreischenden Menschen unter ihm
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