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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin
Autoren: Katharina Münk
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wäre es besser gewesen, dich einfach mit einem eingebauten Peilsender durch die Welt zu schicken. Hat es bei deiner Kontrolle nicht gepiept?«
    Sie schaute etwas säuerlich und ging jetzt aufs Ganze:
»Herr Bodega, ich bin auf dem Weg nach Moskau und werde mich in den kommenden sechs Tagen im geschlossenen Abteil der Transsibirischen Eisenbahn aufhalten – also in Sicherheit, aber eben ohne Sie. Andere Leute müssen das auch schaffen. Gruß, die Ihrige«
    »Warum hat man mich nicht informiert? Bod«
    »Weil dies Urlaub und kein Versteckspiel ist. Jedenfalls betrachte ich das so.«
    »Ich muss den Organisationsstab informieren.«
    »Gar nichts müssen Sie. Gehen Sie eine Runde schwimmen.«
    »Das kann ich nicht.«
    »Natürlich können Sie schwimmen. Es gilt, sich den Herausforderungen, die vor uns liegen, zu stellen. Gruß, die Ihrige«
    »Das kann mich meinen Job kosten. Bod«
    »Ich klappe jetzt zu und schalte ab.«
     
    Also Krieg und Frieden: Sie hatte lange überlegt, ob sie die knapp eintausendfünfhundertsechzig Seiten durch halb |25| Europa tragen sollte, aber es war das im wahrsten Sinne schwerste und anspruchsvollste Buch, das sie auf die Schnelle hatte finden können. Man musste etwas Abwechslung ins Leben bringen, fand sie. Es schien ihr zudem die passende Lektüre zu sein für eine Reise durch die alten Landschaften Russlands, und das Werk würde sich auf dem Mahagoni-Klapptischchen ihres Abteils sicher gut machen.
    Und dann würde sie ganz bei ihnen sein: bei Andrej, dessen Familie ihn tot wähnt, und seiner Frau, schwanger mit seinem Sohn, ach. Und als sie in den letzten Wehen liegt, kommt der tot geglaubte Andrej tatsächlich zurück und muss zusehen, wie seine Frau im Kindbett stirbt. Manchmal sprang sie vor auf diese Stelle im Buch.
    »Mussten es denn unbedingt eintausendfünfhundert Seiten sein, Liebes?« Ihr Mann hatte die Schuhbänder gelockert und die Beine auf das Bordgepäck gelegt. »Sollen wir nicht ein bisschen reden? Weißt du, ich bin ja schließlich auch kein unbeschriebenes Blatt.« Sie schaute auf: »Sicher, ich kann wahrlich nicht sagen, dass es in meinem Leben einen Mangel an Intrigen, Bündnissen, Hoffungen und Enttäuschungen gäbe, den ich durch Lektüre kompensieren müsste, aber weißt du, es ist ganz gut, sich die Systematik dieser Dinge nochmals in ihrer ganzen Dimension vor Augen zu führen und sozusagen Napoleon über die kleine Schulter zu gucken, wenn er in Russland einmarschiert. Man weiß nie, wofür das gut ist.«
    Er fing wieder an, tief ein- und auszuatmen, sein Kopf war nach vorne weggekippt, und sie las weiter.
    »Ich liebe euch alle; ich habe niemandem Böses getan; wofür leide ich? Helft mir doch!«, sagten ihre Augen. Sie sah ihren Mann; aber sie begriff nicht, welche Bedeutung es hatte, dass er jetzt vor ihr stand. Fürst Andrei ging um das Bett herum und küsste sie auf die Stirn.
    |26| Und so verbrachte sie lesend die Stunden auf dem Flug nach Moskau, an so mancher Stelle durchaus um völkerfreundliche Neutralität bemüht, was ihr nicht immer ganz gelang.
     
    Es war bereits halb sieben Uhr morgens,
als sich die Kultusowsche Armee, die bei Olmütz lagerte, zu einer Truppenschau vor den beiden Kaisern, dem russischen und dem österreichischen, für den nächsten Tag zurecht machte
und sie endlich in Moskau landeten.
    Die Erleichterung über den bisher so unkomplizierten Verlauf der Reise schlug langsam um in diebische Freude, denn was ihnen nun bevorstand, war eine wirkliche Verheißung von Freiheit. Ungestörtsein war eine Sache, aber wirklich Verschwinden eine andere.
    Am späten Nachmittag standen sie auf dem roten Teppich. Es war offensichtlich eine dünne Auslegeware, die an den äußeren Kanten flatterte und tiefe, dunkle Spuren an den Stellen hatte, wo sich alle Reisenden mit einem letzten Schritt in den Zug beförderten. Eine kleine Musikkapelle spielte russische Folklore, es wurde Krim-Sekt gereicht, und seine Frau sagte: »Das ist ein schöner Teamgedanke und stimmt ein auf die Reise.« Er musste an die Frauengruppe auf der Fähre denken und schob sie galant Richtung Abteil, bevor sich irgendjemand näher mit ihrem Gesicht beschäftigen konnte oder gar sie sich mit den Mitreisenden.
    Im Innern roch es nicht nach Zug, sondern tatsächlich noch nach Eisenbahn, als hätte jemand ein Raumspray »Transsibirischer Orient-Express« oder »Charme der Zwanziger Jahre« versprüht. Er holte tief Luft, denn Charme konnte nie schaden, und strich im
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