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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin
Autoren: Katharina Münk
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war es jetzt zu spät.
    Die Mutter des Kindes schwieg, schaute ungläubig, blickte sich um. Es war ein erbärmliches Gefühl, wenn Menschen schweigend und wie versteinert vor ihr stehen blieben oder wie Schatten an ihr vorbeihuschten, ohne jedoch den Blick von ihr zu lassen, statt einfach »Guten Tag« zu sagen. War das denn so schwer?
    »Mama, die Tante hat ja Angst.« Die junge Frau brachte ihr Kind in Sicherheit und entfernte sich eilig. Die anderen Frauen und Kinder schlossen sich ihr an.
    »Herrje, was ist in dich gefahren?« Ihr Mann würde sie bis zur Ankunft in Teneriffa nicht mehr aus den Augen lassen und sie mit dem Gesicht aufs Meer an der Reling postieren. Langsam, ganz langsam bekam sie eine Ahnung davon, was noch vor ihr liegen mochte. Ihr Handy summte – die ersten Agenturmeldungen des Presseamts trafen wohl in der Innentasche ihrer Wetterjacke ein.
     
    Man konnte nicht behaupten, dass sie die Einzigen gewesen wären am Flughafen von Teneriffa. Deutsche, fast nur Deutsche. Wenn man Teil der Menge war, konnte das Bad in der |16| Menge schon eine Zumutung sein, fand sie, als sie mit dem Menschenstrom durch die sich öffnenden Glastüren geschoben wurde. Drängeln hatte keinen Sinn, sie war darin auch ein wenig aus der Übung. Bei all dem Geschubse kamen ihr wissenschaftliche Simulationen in den Sinn, die gezeigt hatten, wie sich die Menge unter normalen Bedingungen selbst organisierte. Sie stolperte also mit, überließ sich der Gruppendynamik, und es klappte tatsächlich. In der Halle stürmten sie auf die Eincheckschalter zu. Sie versuchte, sich etwas mehr Freiraum zu schaffen, eine halbe Armlänge vielleicht, aber es gelang ihr nicht. Ihre Mundwinkel erreichten das Kinn. Von Unnahbarkeit keine Spur. Es war ein Kraftakt. Panik machte sich in ihr breit, unter ihrer Schirmmütze wurde die Stirn feucht. Vor Nähe hatte sie berufsbedingt keine Angst, man musste ein Sensorium für die Leute im Lande entwickeln und dies auch zeigen, auf sie zugehen, Brücken bauen. Aber hier gab es keinen Abstand, um Brücken zu bauen. Und wollte irgendjemand hier sie überhaupt sehen, wo doch alle durch sie hindurchzulaufen schienen? Sie suchte mit den Augen einen Fixpunkt am Horizont, aber in dieser Halle gab es keinen Horizont.
    Das war er wohl, der Preis der Freiheit. Sie war nicht umsonst zu haben, dachte sie, die Freiheit vom Apparat, von all den helfenden Geistern, die ihr sonst jeden Wunsch von den Lippen ablasen und Korridore durch die Menge schlugen. Ja, hier und jetzt im Aeropuerto de Tenerife, in Caprihose und Sportschuhen, war die Freiheit gerade verdammt gemein zu ihr, trug verschwitzte Hemden und spitze Absätze.
    Wo blieb die Würde, so ganz allgemein, von ihrer eigenen ganz zu schweigen? Sie schaute sich fragend um. Es blieb nur die Wahl zwischen Panik oder Paralyse. Sie entschloss sich spontan für die Paralyse, hielt sich am Griff ihrer Reisetasche fest und starrte regungslos nach vorn, als hielte ihr |17| jemand eine Waffe ins Genick. Es würde schon alles irgendwie an ihr vorübergehen.
     
    »Sind wir Economy gebucht?« Bei dieser Frage kam sie sich zwar ein bisschen unsouverän vor, doch sie war nun einmal ganz persönlich für sie und gerade jetzt von großer Bedeutung.
    »Ja, sicher sind wir Economy gebucht. In der Business Class fallen wir doch auf.«
    »Heißt das, wir gehen davon aus, dass uns all die Leute in der Economy Class weniger schnell erkennen als die wenigen in der Business Class und dass die Menge also keinen statistischen Faktor in Relation zur Wiedererkennungswahrscheinlichkeit hat?«
    »Das könnte man behaupten.«
    »Ist das nicht irgendwie traurig?«
    »Nein, wieso?«
    »Hm.« Ja, natürlich kannte sie das Volk, die Bürgerinnen und Bürger auf den Marktplätzen, auf langen Bänken mit einer Bratwurst in der Hand, mit einem wie auch immer gearteten Basisinteresse an ihrer Person. Aber politisch groß geworden war sie mit denen ja nun nicht gerade, ihre Anfänge hatten sich glücklicherweise nicht in Bezirksfeuerwehrhallen abgespielt, auf gespendeten Fliwatüüt-Kinderwippen oder beim Schlagbohren und Stichsägen in einzuweihenden Baumarktketten. Sie hatte höchstens Flugblätter geklebt, allein, aber gern. Wer war das also hier? Waren das überhaupt ihre Wähler? Wohl eher ihre Nichtwähler. Sie ertappte sich dabei, dass diese letzte Annahme sie fast schon wieder beruhigte, denn man konnte nicht sagen, dass sie in diesem Augenblick eine tiefe Sympathie für die Menschen um sie
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