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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin
Autoren: Katharina Münk
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wahre Entdeckungsreise in die ferne und auch in die nicht allzu ferne Vergangenheit begeben konnte, war ihm und ihr nicht verborgen geblieben. Es war lediglich eine Frage der neuronalen Verknüpfung: Ob Ananasringe in Haselnusspanade den Weg in die Erinnerung des nächsten Tages fanden, war nicht nur eine Frage des reinen Geschmackserlebnisses, sondern vielmehr der Umgebungsbedingungen und der Gespräche, die man damit verknüpfte. Und so hatte sich mit den Gerichten auch ein wenig ihr Leben verändert.
    |244| Nur der Einkauf der Zutaten auf den diversen Märkten der Umgebung gestaltete sich schwieriger als gedacht, da sie gern dabei war, sofern es ihre Zeit erlaubte. Und überall erkannte man sie. Diese Orte waren schließlich keine kanarischen Charterflughallen, sondern recht übersichtliche Marktplätze, mit Ständern voller Zeitungen, auf deren Titelseiten sie gerade Luftsprünge machte oder Menschen durchs Wasser zog. Um also einigermaßen ungestört einkaufen zu können – und dazu hatte der Sicherheitsdienst dringend geraten – blieb letztendlich nur ihr angestammter Verbrauchermarkt übrig. Sie konnte sich zudem bis direkt an den Eingang chauffieren lassen, meistens sogar von Herrn Bodega, und man wusste, dass sie ab und zu kam, wunderte sich nicht.
     
    Sie fand, dass es an diesem Sonnabend ungewohnt laut und voll war. Vor der Käse- und Wursttheke hatte sich eine lange Schlange gebildet, und es gab keine Tüten mehr fürs Obst. Es war schon erstaunlich, dachte sie, dass die materielle Organisation des Lebens im 21.   Jahrhundert bei nahezu durchgehenden Ladenöffnungszeiten noch genau denselben Stellenwert zu haben schien wie in der Steinzeit.
    Und dann sah sie ihn, den Mann mit dem Knöchlein am Lederband im Ohr, just als sie einen sauren Apfel in die Hand nahm. Ayurvedisches Apfelchutney habe herbe Grundnoten und erfahre seine Verfeinerung allein durch die Gewürze, hatte ihr Mann gesagt.
    Dieser Mann, der jetzt mit einem ganzen Tross von Kameramännern und Lichttechnikern die Rolltreppe herunterfuhr, kam in ihr hoch wie ein Schluckauf. Ja, sie hatte vage Erinnerungen an ihn, es musste der Oppositionsführer sein. Doch was tat der jetzt in ihrem Supermarkt, auf ihrem Terrain, auf ihrer kleinen, ungestörten Insel der Privatheit?
    |245| Als sie ihn mit all den anderen Kunden auf der Rolltreppe herunterschweben sah, kam ihr der Gedanke, dass er eigentlich ganz gut in einen Supermarkt passte, er schien das volle Sortiment im Angebot zu haben, so wie er sprach. Bei ihm schien sich jeder bedienen zu können, denn er breitete beim Reden die Arme weit aus. Ja, er war es mit Sicherheit. Sie beobachtete ihn mit einer Mischung aus Skepsis und Faszination. Welchen Film mochte man ihm vorspielen jeden Morgen?
    Sie musste zugeben, dass es nahe des Regierungsviertels kaum einen normalen Supermarkt gab, sondern nur welche mit Feinschmeckerabteilung und Champagner-Lounge. Doch wenn es sich hier, wie sie annahm, um ein verfrühtes Eintreten in die Wahlkampfphase handelte, dann war das doch ein etwas kläglicher Versuch. So schaffte man keine Erinnerungen.
    Er sah sie nicht. Sie hielt sich beim Kaffee und der Dosenmilch auf, schob ihren Wagen beiseite und stellte sich in sicherer Entfernung von der Szenerie seitlich in den Gang, während er auf die Theke mit den Milchprodukten zusteuerte. Dort hatte man vor ein Sonderangebotsschild ein großes Plakat mit der Aufschrift »BIO – Einkaufen mit Herz und Verstand« gehängt und drei mal drei Meter Kunstrasen ausgerollt. Auf dem kam der Oppositionschef jetzt zu stehen und begann mit der Filmaufnahme.
    Sie krallte ihre Fingernägel in den Apfel. Das hatte nichts damit zu tun, dass sie den Mann dort drüben im Scheinwerferlicht nicht mochte, sondern lag eher daran, dass sich ihr Hippocampus wieder meldete, wie ein wildes Tier auf der Suche nach Nahrung, nach frischen Erinnerungen. Wieder überkam sie eine Welle, ein rein instinktgesteuertes Phänomen, geradezu körperlich, und sie versuchte, dagegen anzugehen. Weitere Schlagzeilen wären zu diesem Zeitpunkt |246| äußerst schädlich, hatte man ihr am Morgen versichert, sie hatte es eingesehen und konnte doch nicht anders, als einen Schritt nach vorne zu tun. Die unangenehmsten Begegnungen waren ja oft die lehrreichsten.
    Sein Spiel war gut einstudiert und geschliffen, und genau das reizte sie ungemein. Sie schaute zu ihrem Einkaufswagen im Gang und dann wieder auf die Bio-Bühne, als ihr auffiel, dass das
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