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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin
Autoren: Katharina Münk
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ruderfähig!«
    »Oh«, beschwichtigte er, »das sieht schlimmer aus, als es ist.«
    Ihre Neugierde war geweckt: »Was haben Se denn da?«
    Sie wusste, dass er diese Frage nicht hören wollte, und hatte sie deswegen gestellt.
    Er blickte aufs Wasser, tat, als schaue er den auffliegenden Kranichen hinterher, und sagte: »Hallux valgus.«
    »Wie bitte? Sie verfallen gerne wieder ins Lateinische, nicht wahr?«
    Nein, entgegnete er, das sei ein gängiger medizinischer Begriff für den Schiefstand der großen Zehe. Er habe das jetzt operieren lassen, und dies sei nun ein »Vorderfußentlastungschuh«. Ob sich ab und zu ein Kranich in die Hauptstadt verirre, wollte er wissen.
    |239| Doch sie hatte die Frage überhört, denn sie überlegte gerade, welches Gewicht ein solcher Vorderfußentlastungschuh haben mochte. Sicher war er nicht allzu schwer, viel Plastik, nahm sie an. Und immerhin trug er keinen massigen Talar, sondern lediglich einen schlichten, dünnen Zivilanzug. Wie weit also konnte sie gehen? Sie stellte sich eine Lakritzrolle vor, die man auseinandernahm und immer weiter dehnte, unendlich lang. Die einzige Kunst bestand lediglich darin, den richtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen, an dem der Faden riss. Sie näherten sich bereits dem Ufer.
    Und dann, in der unerschütterlichen Gewissheit, das Richtige für sich zu tun, richtete sie sich schwankend auf, trat links und rechts fast wie aus Versehen, aber doch kräftig gegen die Planken, sodass das Boot schnell hin und her schaukelte. Und dann ließ sie sich einfach auf ihn fallen, zog ihn mit sich ins Wasser. Noch im Fallen hörten sie das Raunen, das durch die Menge am Ufer ging. Es war ja für einen guten Zweck, dachte sie, für ein Ziel, das außer ihr und ihrem Mann niemand kannte: die Erinnerungssorgfalt. Man musste sich eben manchmal ins Leben stürzen, und sie würde alles tun, um ihren Hippocampus zu überlisten. Wenn am folgenden Tag nichts weiter bliebe als ein vorüberhuschendes Bild in ihrem Kopf, wäre sie schon glücklich.
    Im ersten Moment schien ihr Rudergefährte den Sprung ins kalte Wasser tatsächlich einigermaßen gelassen zu nehmen, er tat ein paar Schwimmzüge, schien das Element zu beherrschen. Die Zeit der heimischen Sonnenbänke und Schwimmbäder war vielleicht doch noch nicht endgültig vorüber in diesen Kreisen. Doch dann schien der orthopädische Schuh schwerer zu wiegen, als ursprünglich gedacht, oder vielleicht war es ein Krampf, er hatte jedenfalls bald Mühe, den Kopf überhaupt über Wasser zu halten. Als |240| sie auf ihn zuschwimmen wollte, sah sie ihre Sonnenbrille langsam neben sich im Wasser versinken, Herrn Bodegas Pilotenbrille gegen tiefstehende Sonnen. Nein, das würde sie nicht zulassen.
    Sie hatte den Bischofskonferenzvertreter zu fassen bekommen, aber nun ließ sie ihn los, es würde wohl gehen, nur für ein paar Sekunden, griff unter Wasser nach der Brille und rettete somit ein kostbares Stückchen Erinnerung.
    Er schnappte nach Luft, die Wasseroberfläche schloss sich über seinem Kopf, sicher waren die Sicherheitsbeamten am Ufer längst in den See gesprungen.
    Sie setzte die Brille auf, packte ihn, begab sich in die Rückenlage und schwamm mit ihm dem Rettungstrupp entgegen. Das Blitzlichtgewitter war bereits zu hören.
    Von schlechter Presse konnte keine Rede mehr sein. Spätestens mit diesem Bootsunfall hatte sich eine mediale Eigendynamik entwickelt, gegen die man nicht mehr ansteuern konnte. Sicher, es hatte eine Fülle von Spekulationen, widerstreitenden Interpretationen und politischen Kolportagen über die neue Beweglichkeit der Regierungschefin gegeben, aber nichts täuschte darüber hinweg, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung populärer denn je war. Sie hatte den »Mutti-Planeten endgültig verlassen« und darüber hinaus »die Kirche gerettet«, wie die Presse schrieb – aber doch, und das war das Pikante an der Sache, auf eine durch und durch unkonservative, geradezu leichtsinnige Art und Weise, zumindest in den Augen des eingeweihten Kreises. Dieser hatte sich die Aufnahmen von der ins Wasser stürzenden Regierungschefin sehr genau angeschaut, und es bestand kein Zweifel: Dieses Mal hatte sie sich selbst entlarvt. Der MAV brachte es auf den Punkt: »Die geht über Leichen für ihre Erinnerung.«
    Der MAV spielte alle Szenarien durch. Vielleicht war es |241| tatsächlich an der Zeit, den Außenminister heimzuholen. »Wo hält sich der gerade auf?«
    Die Büroleiterin blickte auf ihre Unterlagen und
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