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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin
Autoren: Katharina Münk
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Regierungssprecher in ihr Büro kam. Er war gerade erst über das Kurzfrist-Statement der Regierungschefin informiert worden und völlig genervt. Es waren bereits ausgewählte Pressevertreter geladen worden, denen er jetzt sagen musste, dass es in seinem Ressort eben immer wieder Ereignisse gab, die einen gesetzten Zeitplan durcheinanderbrachten und dass er sich in Zukunft bemühen würde, Parallelunterrichtungen zu vermeiden. Man würde wütend |231| den Saal verlassen. Und die Opposition hätte mit all dem ihre absolute Steilvorlage. Was für ein Drama.
    Das Telefon läutete. Die Büroleiterin nahm das Gespräch an und machte jetzt ihrerseits ein etwas verstörtes Gesicht. Der Regierungssprecher wurde aufmerksam, näherte sich ihr, nahm schnell ein Gummibärchen aus der Schüssel auf ihrem Tisch. Normalerweise konnte nichts und niemand sie aus der Fassung bringen, sie war wie eine lebende Firewall, die genauso abgebrüht war wie die, die sie zu durchlöchern versuchten. Sie fing an zu gestikulieren, formte die Lippen zu einem Wort, das für ihn wie »Außenminister« aussah, und schaltete den Lautsprecher an.
    Ja, er war es, unverkennbar, er rief aus den USA an, um sich nach der Lage im Lande zu erkundigen, denn am anderen Ende des Teiches schwappe gerade eine Welle der Berichterstattung hoch mit recht eigenartigen Bildern der Regierungschefin. Er könne nicht schlafen, frage sich, ob man ihn in diesen Stunden vor Ort in der Heimat brauche. Er stehe sozusagen in den Startblöcken.
    Nein, sagte die Büroleiterin, sie könne sich nicht vorstellen, dass man ihn brauche, und schob ein »jetzt« nach. Doch er war nicht zu beruhigen, sodass sie ihre liebe Mühe mit ihm hatte. Wie er die Lage in New Orleans einschätze, wo er doch schon einmal in Amerika sei, wollte sie wissen, sicher immer noch schlimm. New Orleans sei ja nun nicht weit weg von seinem derzeitigen Aufenthaltsort, und er solle sich nur einmal die Bilder vorstellen: Er. Dort. Vor Ort. Was sei dagegen schon die Nachricht von einer schlittschuhfahrenden Amtschefin?
    Ja, entgegnete er, das leuchte ein, warum nicht. Er lasse sofort einen Flug dorthin buchen, einer müsse sich ja kümmern. Und man wusste, welche Bilder er bereits vor Augen hatte.

|232| Die Sprungkraft
    In den folgenden Tagen gab es zwei bedeutende, durchaus identitätsbildende neue Erkenntnisse für die Regierungschefin. Erstens scharten sich plötzlich viele alte, aber auch neue Freunde um sie, sie bekam eine Jahreskarte für alle bundesdeutschen Eisporthallen und vom nationalen Motorradsportbund einen Gutschein für die Prüfung zur Führerschein-Klasse I sowie eine eigene Maschine mit einem Adler auf dem Tank, die sie selbstverständlich gleich retournierte. Und je größer ihr Freundeskreis wurde, umso größer wurde auch die Zahl ihrer Feinde. Das war der eigentliche Preis, den sie zu bezahlen hatte. Bisher hatte sie in Relation zu anderen Staatsoberhäuptern nur ein paar Freunde gehabt und nur ein paar Feinde, alles recht überschaubar eigentlich. Dies hier war nun eine andere Liga: Das Leben wurde bunter, aber noch risikoreicher, als es ohnehin schon gewesen war, und sie musste wachsamer denn je sein.
    Die Geschichte mit Dimitrij schmerzte noch immer, und es war weniger der Ärger über das missbrauchte Vertrauen, sondern eher der über ihre eigene Naivität. Trotzdem: Er war für etwas gut gewesen, hatte ihr erste Erinnerungen abgetrotzt. Ja, wenn sie ehrlich war, faszinierte er sie noch immer in seiner ganzen Abgebrühtheit. Und so kam es, dass ihre Feinde plötzlich höchst interessante Zeitgenossen für sie wurden, mit denen sie sich nicht ungern umgab. Sie |233| konnte ja kriegen, wen sie wollte. Und man wusste nie, was hängen blieb.
    Die zweite Erkenntnis gestaltete sich etwas komplexer. Ihr Mann und sie hatten einige recht ereignislose Tage in die Versuchsreihe zur Revitalisierung ihrer Erinnerungen integriert, was, um ehrlich zu sein, nicht so schwierig gewesen war. Von diesen Tagen hatte sie keinerlei Erinnerungen davongetragen. Andere Tage dagegen, an denen sie versucht hatten, neuroplastische Botenstoffe freizusetzen, um die emotionalen Zentren im Kopf anzusprechen, hatten durchaus konkrete Bilder und Gefühle hinterlassen. Es war ihr unheimlich, ihr Gedächtnis auf diese Art und Weise tatsächlich steuern zu können, und sie fühlte sich am Anfang noch ein wenig unbehaglich dabei. Aber je öfter sie den Tagen Erinnerungen entlockte, umso mehr überkam sie eine merkwürdige
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