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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin
Autoren: Katharina Münk
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Müßiggang ist bei dem Menschen auch nach dem Fall dieselbe geblieben, aber es lastet nun auf dem Menschen ein Fluch, und zwar nicht nur insofern, als wir uns nur im Schweiß unseres Angesichtes unser Brot erwerben können, sondern auch insofern, als wir vermöge unserer moralischen Eigenschaften nicht zugleich müßiggehen und in unserer Seele ruhig sein können.
    Er las die Stelle zwei Mal laut und deutlich, hielt ihre Hand etwas fester, ließ ihr Handy auf Vier-Balken-Lautstärke an ihrem Ohr klingeln. Doch ihre Augen blieben geschlossen, ihr Gesichtsausdruck war so entspannt und aufgeräumt wie nach einer verpassten Kabinettssitzung, so, als sei nichts geschehen, außer dass ihr irgendwo in Russland ein Brett auf den Kopf gefallen war. Ansonsten kein einziger O-Ton mehr, täglich vierundzwanzig Stunden Schlaf, und das seit über einer Woche.
    Das Zimmer war geräumig, völlig ruhig und abgeschirmt vom Rest der Privatstation, mit einem kleinen Schreibtisch, über dem ein überdimensioniertes Gemälde hing: Ein alter Mann blickte versonnen mit vor dem Bauch verschränkten Händen auf sie herunter – russischer Realismus offenbar, |33| man kam sich beobachtet vor, er fand es unpassend für diese Umgebung, hätte sich eher etwas Landschaftliches oder eine kleine Ikonenmalerei gewünscht, auf dem das Auge ruhen konnte. Vom Fenster aus sah man nur eine kleine Rasenfläche, die von einem grau-grünen Metallzaun eingefasst war, aber immerhin konnte man gut die Auffahrt der Klinik in Augenschein nehmen, wo regelmäßig Krankentransporte eintrafen, selten allerdings mit Blaulicht, eher ruhig vorrollend. Hier schien der Schwerpunkt auf Rehabilitation zu liegen, nicht auf Notfällen.
    Es war gar nicht so einfach gewesen, einen diskreten Ort zu finden, der nicht weiter als ein bis maximal zwei Hubschrauber-Flugstunden von Omsk entfernt war. Und da seine Frau auch längerfristig nicht zu Sinnen kam, hatte er natürlich ihren engsten Stab informieren müssen. Sie war immerhin eine öffentliche Person, und da konnte eine mehr oder weniger vorübergehende Bewusstlosigkeit schon einmal die eine oder andere Auswirkung auf die Staatsgeschäfte haben. Ein Anruf hatte genügt, und ein kleiner Kreis in der Regierungszentrale, insgesamt drei Personen, war in Kenntnis gesetzt. Das hatte völlig ausgereicht, um die ersten Mechanismen umfänglich, aber vorsichtig in Gang zu bringen, und nichts, aber auch gar nichts von dem Vorfall würde nach draußen dringen. »Wer quatscht, fliegt raus« – in Momenten wie diesem vertraute er dem Wahrheitsgehalt dieser Äußerung, die von seiner Frau stammte, als sie noch bei Bewusstsein war. Der Rettungsschirm war somit aufgespannt über ihr, und sie musste nur noch die Augen auftun.
    Die Ärzte hatten ihm gesagt, er solle sich nicht sorgen, wenn sie ihn nach dem Erwachen nicht gleich erkenne. Es könne so sein, als sei sie von einer sehr, sehr langen Reise zurückgekehrt. »Damit komme ich klar«, hatte er spontan erwidert. Schließlich hatte er über die Jahre an ihrer Seite |34| auch seine ganz eigenen Kompetenzen entwickelt. Das Ärzteteam hatte verständnisvoll und diskret genickt.
    Für die Sanitäter und die Hubschrauberbesatzung war seine Frau »die Dame, die am Zug war«, doch hier in der Klinik war den wenigen mit ihr befassten Ärzten durchaus bewusst, dass sie sich ein veritables Regierungsoberhaupt ins Bett gelegt hatten. Bei diesem Behandlungsteam hatte man es vorerst belassen, auch keinen ausgewiesenen Experten hinzugezogen, denn jede zusätzliche Person, die wusste, in was für eine missliche Lage die Regierungschefin da geraten war, stellte ein Risiko dar. Er schlug das Buch wieder auf.
    »
Unser Feuer reißt sie reihenweise nieder, aber sie halten dennoch stand«, meldete der Adjutant.
    »Sie wollen noch mehr davon!«, erwiderte Napoleon heiser.
    »Sire?«, fragte der Adjutant, der nicht deutlich verstanden hatte.
    »Sie wollen noch mehr davon«, wiederholte Napoleon stirnrunzelnd mit rauer, zischender Stimme. »Lassen Sie es ihnen verabfolgen.«
    Auch ohne seinen Befehl hätte sich das vollzogen, was in Wirklichkeit gar nicht ein Produkt seines Willens war und was er nur anordnete, weil er meinte, dass man von ihm Befehle erwartete.
    »Mehr Wasser, bitte.«
    Sie kam zu sich. Das Buch glitt ihm vom Schoß, fiel unter ihr Bett. Napoleon würde am Boden, aufgeschlagen auf Seite eintausendsechsundsechzig, in Moskau liegen bleiben. Er nahm ihren Kopf in seine Hände.
    »Wo bin
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