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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin
Autoren: Katharina Münk
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ich?«
    »In einem Krankenhaus in Moskau, mein Liebes. Du hattest einige Tage das Bewusstsein verloren.«
    |35| »Moskau? Hat das mit dem demokratischen Aufbruch nicht geklappt?«
    »Wie bitte?«
    Er überlegte kurz und kam zu dem Schluss, dass es sich um eine vorübergehende Orientierungslosigkeit handeln müsse und er sie deswegen einfach mit den Tatsachen konfrontieren würde, das hatte sie immer gemocht. »Es ist alles ganz einfach: Du bist aus dem Zug ausgestiegen, erinnerst du dich? Dir ist während unseres Urlaubs mit der Transsibirischen Eisenbahn ein Bahnhofsschild auf den Kopf gefallen.« Es klang schon ein wenig seltsam, das musste er zugeben. So etwas glaubte einem doch niemand, erst recht niemand, der gerade aus dem Koma erwacht war.
    »Ein Bahnhofsschild? Das ist doch unterirdisch! Hör auf mit den Witzen! Ich muss weg. Mein Wahlkreis wartet.«
    »Wie bitte?«
    »Du weißt doch, dass ich gerade ein Mandat bekommen habe, und jetzt redest du allen Ernstes von Urlaub und der Transsibirischen Eisenbahn! Wir haben 1991, mit Verlaub! Ich darf keine Zeit verlieren!«
    Er musste etwas trinken, stand auf und nahm sein Glas vom Besuchertisch. Offenbar war ihre Reise tatsächlich sehr, sehr lang gewesen, und sie schien unterwegs zwanzig Jahre verloren zu haben. Wahrscheinlich konnte er froh sein, sie schon vorher kennengelernt zu haben. Dass sie ihn erkannte, war nichts weiter als purer Zufall, befürchtete er, ein Produkt der biologischen Willkür, die sich da gerade in ihren Hirnarealen auszutoben schien. Er hatte bis zuletzt geglaubt, dass seine Frau viel zu trainiert im Kopf war, um einfach so das Gedächtnis zu verlieren. Außerdem hing sie für gewöhnlich an den Dingen. Und nun sollte ihr Kopf blank sein wie ein ausgeputztes Ofenrohr? Man konnte sagen, dass ihm diese Vorstellung kein wirklich gutes Gefühl gab. |36| Doch es war noch gar nichts im Vergleich zu der Herausforderung, ihr jetzt beizubringen, dass sie sich bereits seit fünf Jahren weit über ihren Wahlkreis hinaus politisch betätigte, das ganze Land, sozusagen den nationalen Wahlkreis, regierte und dass der Demokratische Aufbruch schon längst Teil der Geschichtsbücher war. Es gab nichts mehr, aus dem demokratisch aufzubrechen war.
    Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante. Die Ärzte hatten ihn ja darauf vorbereitet, und danach würde alles besser werden. »Liebes, da ist etwas, das du wissen musst. Dein Gedächtnis spielt dir gerade einen kleinen Streich. Aber das wird sich geben.«
    »Nun werde doch mal etwas konkreter! Man muss die Dinge klar vorbringen und mit Nachdruck deutlich machen.«
    »Sicher. Wie soll ich sagen? Die letzten zwanzig Jahre scheinen dir gerade ein klein wenig abhanden gekommen zu sein. Das wird schon wieder, gerade weil du in denen ja so einiges erreicht hast.«
    »Was?« Sie bekam wieder diesen einfrierenden Gesichtsausdruck. Immerhin, die Mimik funktionierte noch.
    Er zählte ihr ihre Ämter im Schnelldurchlauf auf, und es klang, als lese er ihr den Krankheitsverlauf auf dem Beipackzettel eines Medikaments vor. »Tja«, schloss er, »und nun ist da vor ein paar Jahren eben noch ein Amt dazugekommen.« Er hielt inne, ärgerte sich. Warum hatte er es nicht einfach beim ersten Amt belassen? Das hätte für diesen Tag gereicht. Aber nun war es zu spät.
    »Welches Amt?« Sie versuchte, sich im Bett aufzusetzen.
    »Nun, du musst nur die logische Kette dieser Ereignisse fortsetzen. Es ist ganz einfach und auch gar nicht so schlimm, wie es sich anhört. Bitte rege dich nicht zu sehr auf.«
    »Sag es. Was bin ich? Welches Jahr haben wir?«
    |37| Er tat es, und sie schloss die Augen. Wenn sie jetzt nochmals das Bewusstsein verlor, müsste er ihr unter Umständen wieder alles erklären. Um Himmels willen, das würde er nicht schaffen, damit wäre er überfordert, klar überfordert. Das war ein Fall für den Fachmann, nicht für den Ehemann. Er tätschelte ihr die Wangen ganz leicht mit der Hand. Wenn sie wenigstens geschrien hätte, vor Freude oder auch vor Entsetzen. Aber nichts. Es mussten die Medikamente sein.
    Sie schlug die Augen auf, blieb ruhig. »Damit macht man keine Scherze. Ich will in den Wahlkreis.«
    »Liebes, das kannst du ja auch. Er ist eben jetzt nur, wie soll ich sagen, etwas größer.«
    Er kramte in seiner Jacketttasche nach einer Beruhigungstablette für sich und hätte nie gedacht, dass er der Typ war, der so etwas brauchte.
     
    Der Hippocampus war schuld. Der war irgendwo in ihrem Gehirn zuständig
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