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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin
Autoren: Katharina Münk
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hinter sich, alles rauschte an ihr vorbei, ein Bild löschte das vorhergehende aus. Wie schön. Wenn das im wirklichen Leben doch manchmal auch so wäre, dachte sie und schlug ihr Buch auf.
    »Na, dann wollen wir anfangen«, sagte Dolochow.
    »Gut!«, erwiderte Pierre, auf dessen Gesicht immer noch dasselbe Lächeln lag.
    Der furchtbare Ernst kam jetzt allen zum Bewusstsein. Es war offenbar, dass die so leicht begonnene Sache jetzt durch nichts mehr aufgehalten werden konnte, sondern bereits, unabhängig von menschlichem Willen, von selbst ihren Lauf nahm und nun durchgeführt werden musste.
     
    Am dritten Tag überquerten sie den Ural und bei Kilometer Eintausendsiebenhundertsiebenundsiebzig die Grenze zwischen Europa und Asien.
    |30| »Wer singt denn da?«
    »Der Russischkurs im Konferenzwagen. Man lernt die Sprache leichter, wenn man sie singt.«
    »Ich bedaure, dass wir schon Russisch können. Es macht so viel Spaß, etwas zu lernen, das richtig schwierig ist.«
    Sie sang auch gerne, hatte jedoch nur selten Gelegenheit dazu. Ihre Umgebung förderte diese Neigung nicht gerade. Schade eigentlich, dachte sie, vielleicht waren sie allesamt ganz wunderbare Sänger und wussten es nur nicht?
    Doch genau genommen wurde ihr das Singen dann doch zum Verhängnis. Denn als der Zug in Omsk hielt, wäre sie zum ersten Mal wirklich gern einmal ausgestiegen, trotz all der Stechmücken. Das lag am Musikverein des örtlichen Kombinats, der sich am Bahnsteig versammelt hatte und sich die russische Seele aus dem Hals sang. Als sie sich jetzt noch weiter aus dem Fenster lehnte, sah sie den kleinen, hellblau gestrichenen Holzlattenkiosk am Bahnsteigübergang, in dem kleine, hölzerne Heiligenbilder und auch frisches Obst verkauft wurden. Das reichte.
    Vielleicht war es diese unwiderstehliche Kombination aus Akustik und Optik, die ihr Herz berührte. Man konnte es später nicht mehr rekonstruieren. Von irgendwo in ihrem Inneren musste sich ein kleines Stück Leichtsinn den Weg an die Oberfläche gebahnt haben. Jedenfalls zog sie den Reißverschluss ihrer Vliesjacke zu, zögerte, vergewisserte sich, dass ihr Mann noch unter der kleinen Dusche stand, und stürzte dann nach draußen. Sie steuerte gerade auf die Kombinatskombo zu, als ihr Handy vibrierte.
     
    Es war der spanische Regierungschef, der sie an ihrem offiziellen Urlaubsdomizil wähnte und auf der Durchreise zu seinem eigenen ein kleines, informelles Treffen vorschlug.
    Sie stellte sich unter das Vordach über dem Gleiszugang |31| des Bahnhofsgebäudes, einem, wie sie glaubte, etwas unauffälligeren Standort.
    »Sehr verehrter Herr Kollege, ich empfange Sie jederzeit sehr gerne in Ihrem wunderschönen Land. Allerdings grassiert hier momentan ein kleines Virus, das auch meinem Mann und mir ein wenig auf den Magen geschlagen ist. Wir freuen uns auf Sie. Viele Grüße, die Ihrige«
    Muchas gracias, es könne vielleicht auch sein, dass das alles so schnell nicht zu arrangieren sei. Man melde sich kurzfristig.
    »Sehr gern, und nun entschuldigen Sie mich, die Toxikologen von der Behörde sind gerade eingetroffen. Ich werde trotzdem eine glühende Botschafterin der spanischen Küche bleiben. Viele Grüße, die Ihrige«
    Sie überlegte, ob sie einen sommerlich unbeschwerten Smiley anfügen sollte, denn dieses Symbol war manchmal durchaus hilfreich, um Scherz und bittere Wahrheit besser auseinanderzuhalten. Warum gab es so etwas nicht auch für die mündliche Kommunikation, falls die Mimik versagte?
    Während sie also mit dem Daumen die Optionen auf der Tastatur abfuhr, wehte ihr plötzlich ein unerwartet heftiger Windstoß entgegen. Direkt über ihr knarrte es bedenklich, so als drohe das kleine Bahnhofsgebäude gleich einzustürzen. Sie konnte gerade noch »Huch« sagen, auch gar nicht mehr hochblicken, bevor das Bahnhofsschild »Omsk« sich über ihr löste. Sie hörte es zwar, spürte aber kaum, wie das Holz dumpf auf ihren Kopf prallte, bevor es krachend zusammen mit ihr den Boden erreichte. O msk. Die Kombinatskapelle spielte weiter, jetzt erst recht, oder weil man nichts bemerkt hatte   … Eine kleine Rosshaar-Geige war das Letzte, was sie hörte – und da hätte es ja wahrlich Schlimmeres gegeben   –, als sie endgültig das Bewusstsein verlor.

|32| Die Dame, die am Zug war
    Die biblische Überlieferung sagt, dass das Fehlen jeglicher Arbeit, das Nichtstun, ein wesentliches Moment der Glückseligkeit des ersten Menschen vor seinem Sündenfall gewesen sei. Die Liebe zum
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