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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
Autoren: A.D. Miller
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ihnen im Zickzack durch die Menge entgegeneilte.
    *
    »Hallo, Nicholas«, sagte Katja auf Englisch.
    Der Kontrast verstörte mich jedes Mal aufs Neue. Ihre Stimme klang, als gehörte sie einem Schulmädchen oder einer Comicfigur, und doch waren da diese langen Beine, nackt von den weißen Lederstiefeln bis zum Saum eines Faltenröckchens wie es Cheerleader tragen oder Kellnerinnen bei Hooters. Das blonde Haar fiel ihr offen auf die Schultern. Ich weiß, für viele Männer wäre sie die eigentliche Attraktion gewesen, aber ich fand sie ein bisschen zu jung, ein bisschen zu aufdringlich. Sie probierte sich noch aus, den Gang, die Frisur, die Rundungen, versuchte herauszufinden, wie weit sie gehen konnte.
    »Hallo, Nikolai«, sagte Mascha. Sie hatte einen Minirock an, der farblich fast zu meinem Hemd passte, dazu einen vergleichsweise züchtigen schwarzen Pullover, Lippenstift und Wimperntusche, aber nicht so übertrieben wie man es oft sah. Blutrote Fingernägel.
    Ich setzte mich ihnen gegenüber. Am Tisch hinter uns saßen ein halbes Dutzend lärmende Geschäftsleute mit sieben oder acht Frauen, alle jung genug, um ihre Töchter sein zu können, was sie aber nicht waren.
    Natürlich gab es nicht viel zu reden.
    Länger als nötig studierten wir die Speisekarte mit den zeitaufwendigen Listen von Fleischgerichten und Soßen (daneben zwei Zahlenreihen, der Preis und, wie in fast allen Moskauer Restaurants üblich, das Gewicht der jeweiligen Zutaten, Angaben, die den Kunden glaubhaft machen sollten, dass sie hier nicht über den Tisch gezogen wurden). Ich weiß noch, wie mein Blick unwillkürlich bei den Preisen für Schaschlik Royal und Überraschungen aus dem Meer hängenblieb. Ein Singledasein kann einen sogar knauserig machen, wenn man gut bei Kasse ist.
    »Nun, Kolja«, wandte sich Mascha schließlich auf Englisch mit einer dieser kuriosen russischen Verkleinerungsformen an mich. »Was hat Sie nach Russland geführt?«
    »Lassen Sie uns Russisch reden«, erwiderte ich. »Das ist bestimmt einfacher.«
    »Bitte nicht«, sagte Katja. »Wir müssen üben für unser Englisch.«
    »Okay«, gab ich mich einverstanden. Schließlich war ich nicht in den Traum des Ostens gekommen, um mich mit ihnen zu streiten. Von da an redeten wir meist Englisch, falls wir nicht mit anderen Russen zusammen waren.
    »Tak«,
sagte Katja. »Nun. Warum gerade Russland?«
    Ich gab die Antwort, die ich stets gab, wenn mir diese Frage gestellt wurde: »Ich war auf Abenteuer aus.«
    Was nicht ganz stimmte. Der eigentliche Grund, das weiß ich heute, war der, dass ich mich in die Dreißig-plus-Phase der Enttäuschungen vordringen sah, in jene Zeit also, in der Schwung und Ehrgeiz nachlassen und die Eltern der Freunde einer nach dem anderen sterben, in die Zeit von: ›War das schon alles?‹ Bekannte in London, die bereits geheiratet hatten, ließen sich wieder scheiden und legten sich Katzen zu. Andere fingen an, Marathon zu laufen, oder sie wurden Buddhisten, um damit fertig zu werden. Für dich waren es wohl diese windigen Seminare der evangelischen Kirche, von denen du ein paar mitgemacht hast, ehe wir uns kennenlernten. Letztlich aber hatte meine Firma mich nur gefragt, ob ich nach Moskau gehen wolle, für ein Jahr, hieß es, vielleicht auch für zwei. Man deutete an, dass es den Weg zur Teilhaberschaft verkürzen könnte. Ich stimmte zu und flüchtete aus London, aber auch davor, nicht mehr so jung zu sein.
    Sie lächelten.
    Ich sagte: »Meine Firma bat mich, ins Moskauer Büro zu wechseln. Für mich bedeutete das eine gute Gelegenheit. Und«, setzte ich noch hinzu, »ich wollte immer schon mal nach Russland. Mein Großvater hat im Krieg in Russland gekämpft.«
    Letzteres stimmt, wie du weißt. Ich habe Opa nie richtig kennengelernt, aber als ich klein war, wurde immer wieder über seine Kriegserlebnisse geredet.
    »Und als was hat Ihr Großvater gedient?«, fragte Mascha. »War er ein Spion?«
    »Nein, Matrose. Er ist bei Konvois mitgefahren – Sie wissen schon, auf diesen Schiffen, die Vorräte aus England nach Russland gebracht haben. Er war auf den Konvois in die Arktis. Nach Archangelsk. Und nach Murmansk.«
    Mascha beugte sich vor und murmelte Katja etwas ins Ohr. Ich nahm an, sie übersetzte.
    »Ehrlich? Kein Witz? Er war in Murmansk?«!
    »Ja, mehr als einmal. Er hat Glück gehabt. Sein Schiff wurde nie getroffen. Ich glaube, nach dem Krieg wollte er zurück, aber das war unter den Sowjets unmöglich. Mein Vater hat mir das
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