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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
Autoren: A.D. Miller
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erzählt – Großvater starb, als ich noch ziemlich klein war.«
    »Das ist für uns interessant«, sagte Katja. »Denn wir kommen daher. Murmansk ist unsere Heimatstadt.«
    In dem Moment kam der Kellner, um unsere Bestellung aufzunehmen. Sie wollten beide das Schaschlik. Ich bestellte das Lamm, dazu aserbaidschanische Pfannkuchen, die man hier mit Käse und Kräutern zubereitete, sowie kleine Auberginenröllchen, gefüllt mit Walnusscreme, etwas Granatapfelsauce und eine halbe Flasche Wodka.
    Damals kam es mir wie ein bedeutsamer Zufall oder ein Fingerzeig vor, dass mein Großvater in ihrer Heimatstadt gewesen war. Ich fragte sie, warum ihre Familien dort oben wohnten, da ich wusste, dass Murmansk zu den Städten im militärischen Sperrbezirk gehörte, in dem man nur lebte, wenn man einen Grund dafür hatte oder wenn einem jemand anderes einen Grund dafür lieferte.
    Mascha sah mir in die Augen und tippte sich mit den roten Nägeln der rechten Hand an die Schulter. Ich meinte, daraufhin etwas sagen oder tun zu müssen, wusste aber nicht, was. Also tippte ich mir nach einigen Sekunden ebenfalls an die Schulter. Sie lachten; Mascha warf den Kopf in den Nacken, Katja beschränkte sich auf ein unterdrücktes Lächeln, mit dem man in der Schule Ärger vermied, wenn man in der Stunde nicht aufgepasst hatte.
    »Nein«, sagte Mascha. »Wie heißt das noch? Das, was Männer in der Armee da tragen?« Sie tippte sich wieder auf die Schulter.
    »Epauletten?«, fragte ich.
    »Wenn ein Russe das macht«, sagte sie und tippte sich immer noch auf die Schulter, »heißt das, Mann in der Armee. Oder in der Polizei. Eines von beidem.«
    »Ihr Vater?«
    »Ja«, sagte sie. »Er war Matrose. Genau wie sein Vater. Und wie sein Großvater.«
    »Ja«, sagte Katja. »Unser Großvater ist auch mitgefahren bei den Konvois. Vielleicht haben sie sich gekannt.«
    »Vielleicht«, antwortete ich.
    Wir lächelten. Wir konnten nicht stillsitzen. Ich sah Mascha an und beiseite, wenn sie mich ansah, das Katz-und-Maus-Spiel des ersten Rendezvous. Durch das beschlagene Fenster in ihrem Rücken und dem in den Fluss fallenden Regen konnte ich gerade noch die reglosen Karussells im Park und die Krimski-Brücke erkennen, dahinter die Kontur der lächerlich großen Statue von Peter dem Großen, die im Fluss unweit der Schokoladenfabrik Roter Oktober steht.
    Ich fragte, wie es war, in Murmansk aufzuwachsen. Natürlich nicht einfach, sagte Mascha. Und natürlich sei Murmansk nicht Moskau. Nur im Sommer, da war es rund um die Uhr hell, und man konnte mitten in der Nacht im Wald spazieren gehen.
    »So was haben wir auch!«, sagte Katja und zeigte auf die Streben des Riesenrads im Gorki-Park. Wieder lächelte sie und kam mir dabei wie ein harmloses, unschuldiges Mädchen vor, für das ein Riesenrad Disneyland bedeutete.
    »Bloß«, sagte Mascha, »war eine Fahrt viel zu teuer. Als ich noch klein war, in den Achtzigern, unter Gorbatschow, da konnte ich mir das Riesenrad nur ansehen. Ich fand es wunderschön.«
    »Warum sind Sie fort?«, fragte ich. »Warum sind Sie nach Moskau gekommen?«
    Ich glaubte, die Antwort bereits zu kennen. Die meisten Mädchen kamen aus der Provinz in die große Stadt und hatten gerade genug Geld, um einige Wochen lang gut auszusehen, während sie bei irgendwem auf dem Fußboden schliefen und versuchten, einen Job zu finden oder, besser noch, einen Mann, der sie zu einem Leben hinter den Elektrozäunen der ›elitny‹ Rubljowskoje Chaussee entführte. Und falls er schon verheiratet war, brachte er sie vielleicht in einer Wohnung in den Straßen rund um Patriarschije Prudy unter – dem Patriarchenteich, Moskaus Hampstead (allerdings mit mehr Automatikwaffen) –, wo er sie nur zweimal die Woche behelligte und ihr die Wohnung überließ, wenn er genug von ihr hatte. Nach Öl waren in jenen Tagen willige, langbeinige Mädchen Russlands wichtigstes Nationalprodukt. Man konnte sie über Internet bestellen, in Leeds ebenso wie in Minneapolis.
    »Aus familiären Gründen«, sagte Mascha.
    »Ihre Eltern sind nach Moskau gezogen?«
    »Nein«, antwortete sie. »Die Eltern sind geblieben in Murmansk. Nur ich musste weg.«
    Sie machte eine weitere Geste, diesmal eine, die ich verstand. Sie hob die Hand und tippte sich seitlich mit dem Zeigefinger an den weißen Hals. Säufer. Das in ganz Russland gebräuchliche Zeichen für Alkoholprobleme.
    »Ihr Vater?«
    »Ja.«
    Ich stellte mir die Streitereien und Tränen vor, oben in Murmansk, dachte an
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