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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
Autoren: A.D. Miller
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die in Zahltagsgelagen versoffenen Löhne, an die kleinen Mädchen, die sich im Schlafzimmer versteckten und vom Riesenrad träumten, das sie sich nicht leisten konnten.
    »Heute«, sagte Mascha, »lebt nur noch Mutter.«
    Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr mein Beileid aussprechen sollte.
    »Aber«, warf Katja ein, »in Moskau wir haben auch Familie.«
    »Ja«, ergänzte Mascha, »in Moskau sind wir nicht allein. Es gibt Tante. Vielleicht Sie mögen sie kennenlernen. Ist alte Kommunistin. Ich denke, ist interessant für Sie.«
    Ich sagte: »Ich würde Ihre Tante liebend gern einmal kennenlernen.«
    »In Murmansk«, fuhr Mascha fort, »waren wir nichts. Was wir gelernt haben, haben wir in Moskau gelernt. Alles Gute. Aber auch alles Schlechte.«
    Man brachte sämtliche Gerichte auf einmal, wie meist in kaukasischen Restaurants, hatte man doch für eine
peu à peu
-Befriedigung, wie sie in einem Vorspeise/Hauptspeise/Nachtisch-Konzept zum Ausdruck kommt, nicht besonders viel übrig. Wir aßen. Die Geschäftsleute hinter uns dagegen ließen vom Essen ab, um ihre Begleitung zu begrabschen, und dies keineswegs verstohlen und unauffällig. Rauchschwaden umnebelten ihren Tisch. Ich stellte mir vor, dass sie selbst noch unter der Dusche rauchten.
    Ich versuchte herauszufinden, wo Mascha und Katja lebten. Sie sagten, sie hätten eine Wohnung an der Leningradskoje Chaussee, der ewig verstopften Schnellstraße, die zum Flughafen Scheremetjewo und nach Norden führte. Ich fragte Mascha, ob ihr die Arbeit im Handyladen gefalle.
    »Ist Arbeit«, sagte Mascha. »Nicht immer interessant.« Sie bedachte mich mit einem kurzen, ironischen Lächeln.
    »Und was machen Sie, Katja?«
    »Ich studiere an MGU «, sagte sie. MGU stand für Moskauer Staatsuniversität, Russlands Version von Oxford, nur musste man bestechen, um dort hingehen, und bestechen, um mit einem Diplom wieder abgehen zu können. »Ich studiere Betriebswirtschaft«, sagte sie.
    Ich war beeindruckt, ganz wie beabsichtigt, und fing an, von meiner Studienzeit in Birmingham zu erzählen, doch Mascha unterbrach mich.
    »Tanzen wir«, sagte sie.
    Die Band spielte ›I Will Survive‹ in doppeltem Tempo; und die Musiker klangen wie die versammelten Trauergäste einer kaukasischen Beerdigung, wenn sie in den Refrain einstimmten. Außer uns tanzte nur noch ein aufgedrehtes kleines Mädchen, das ihren beschwipsten Vater auf die freie Fläche vor die Band gezogen hatte. Mascha und Katja zeigten ihre Kurven, Beckenstöße, dazu eine Andeutung von gespieltem Lesbentum, auf Moskaus Tanzflächen der letzte Schrei, und waren so unbefangen, wie es nur jene sein können, die nichts zu verlieren haben. Noch etwas, was ich an Mascha mochte: Sie konnte sich ganz dem Augenblick hingeben, konnte ihn vom Davor und Danach lösen, um glücklich zu sein.
    Ich zuckte und zappelte, probierte eine kleine Drehung, fürchtete, es zu übertreiben (ich weiß, ich muss noch ein paar Stunden nehmen, bevor wir am bewussten Tag unser Tanzbein schwingen; ich hab’s nicht vergessen). Mascha nahm meine Hand, und einige Minuten lang übten wir uns im subklassischen Gesellschaftsgestolper, wobei ich mich Deckung suchend an sie klammerte. Als wir es endlich bis zum Ende des Songs geschafft hatten und ich mich wieder an den Tisch zurückziehen konnte, war ich heilfroh.
    »Sie sind ein toller Tänzer«, sagte Katja, und beide lachten.
    »Auf die Frauen!«, erwiderte ich, ein Trinkspruch, zu dem man immer Zuflucht nehmen kann, und da in Russland auch jene trinken, denen der Toast gilt, stießen wir mit unseren kurzen, stummeligen Wodkagläsern an.
    Ich war mir noch nicht sicher, worauf der Abend eigentlich hinauslaufen sollte, ob es um mehr ging oder nur um Neugier und die Aussicht auf ein kostenloses Abendessen. In Moskau war meist das dritte Treffen entscheidend, wie auch in London – wie wohl auch auf dem Mars –, im Sommer möglicherweise schon das zweite. Und ich hatte keinen Schimmer, was mit Katja werden würde.
    »Vielleicht Sie möchten unsere Fotos sehen?«, fragte Mascha.
    Sie nickte Katja zu, die daraufhin ihr Handy zückte. Sie fotografierten sich gern, die Mädchen in Russland – hatte vielleicht etwas damit zu tun, dass Kameras für sie noch neu waren, dachte ich, aber auch mit der Vorstellung, sie könnten wichtig sein, weil man ein Foto von ihnen machte.
    »Aus Odessa«, sagte Katja. Anfang des Sommers seien sie dort gewesen, erklärten sie, offenbar bei Verwandten. So wie anscheinend alle
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