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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
Autoren: A.D. Miller
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Welt Verwandtschaft hatte in Odessa (wohl eine Mischung aus Teneriffa und Palermo).
    Wir beugten uns über den Tisch, und Katja präsentierte uns auf dem winzigen Bildschirm ihres Telefons eine Diashow. Auf dem ersten Foto saßen sie mit einem dritten Mädchen in einer Bar. Katja hatte den Blick von der Kamera abgewandt und lachte, offenbar über einen Witz, den jemand gemacht hatte, der auf dem Bild nicht zu sehen war. Die zweite Aufnahme zeigte die beiden am Strand, wo sie in ihren Bikinis nebeneinander standen, im Hintergrund etwas, das einer ägyptischen Pyramide glich. Auf dem nächsten Bild war nur Mascha, wie sie sich im Kleiderschrankspiegel selbst fotografierte: Sie stand da, eine Hand auf der Hüfte, die andere hielt das Handy so, dass ein Teil ihres Gesichts bedeckt wurde. Im Spiegel trug sie das rote Bikiniunterteil, sonst nichts.
    Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und fragte, ob sie nicht Lust hätten, auf einen Tee mit in meine Wohnung zu kommen.
    Mascha sah mir direkt ins Gesicht und sagte ja.
    Ich winkte dem Kellner und kritzelte mit einem imaginären Stift einen Schlenker in die Luft, das internationale ›Lass-mich-hier-raus‹-Signal, von dem man als Teenager, wenn die eigenen Eltern es schreiben, hofft, dass man es ihnen nie gleichtun wird.
    *
    Als wir nach draußen kamen, war es kalt. Nach drei Wintern in Russland wusste ich, jetzt war er da, der große Frost, das Eis in der Luft, das sich bis in den April hielt. Vor dunklem Himmel gerann der weiße Rauch vom Kraftwerk unten am Fluss. Es nieselte noch, Tropfen schlierten über meine Brille und verwischten die Sicht, ließen alles fantastischer aussehen, als es sowieso schon war. Mascha trug ihren Katzenfellmantel, Katja hatte einen purpurfarbenen Plastikregenmantel an.
    Ich hob den Arm, um ein Taxi anzuhalten, und ein Wagen, der schon zwanzig Meter an uns vorbeigefahren war, bremste, setzte zurück und hielt an der Bordsteinkante. Der Fahrer verlangte zweihundert Rubel, und obwohl das einem Straßenraub am helllichten Tag gleichkam, willigte ich ein und setzte mich auf den Beifahrersitz. Er war ein fetter, verbitterter Russe mit Schnauzbart; in der Windschutzscheibe prangte ein Riss, der aussah, als stammte er von einer Stirn oder einer Kugel. Mit dem Zigarettenanzünder war provisorisch ein Mini-Fernseher verkabelt, und während wir am Fluss entlangfuhren, verfolgte der Fahrer eine synchronisierte Soap aus Brasilien. Auf den Kreml-Türmen und den Märchenkuppeln der rückseitig an den Roten Platz grenzenden Basilius-Kathedrale funkelten die Sterne; neben uns floss die suppige, noch nicht gefrorene Moskwa dahin, wand sich geheimnisvoll durch die wilde Stadt. Hinter mir flüsterten Mascha und Katja. Zehn Minuten lang war das Auto des fetten Russen ein rollendes Paradies, ein seliges Gefilde der Verwunderung und der Hoffnung.
    *
    Sah man sich die Decke meiner Wohnung genauer an, konnte man, kaum wahrnehmbar, ein Muster sich überschneidender Streifen erkennen, die ihre Geschichte verrieten wie Ringe an einem Baumstumpf oder die Falten im Gesicht eines Dichters. Sie war eine
kommunalka
gewesen, eine Gemeinschaftswohnung, in der drei oder vier Familien zusammen und doch getrennt gelebt hatten. Früher malte ich mir oft aus, wie hier Menschen gestorben und von ihren Mitbewohnern gefunden oder gestorben und nicht gefunden worden waren. Wie Millionen Bewohner ähnlicher Wohnungen hatten sie ihren jeweiligen Toilettensitz von der Wand genommen, wenn sie kacken gingen, hatten sich in der Gemeinschaftsküche wegen der Milch gestritten, sich bespitzelt und einander geholfen. In den Neunzigern wurden die alten Trennwände dann eingerissen, und eine Bleibe für Reiche entstand; vom früheren Leben zeugten nur noch die Spuren an der Decke, da, wo einmal die Wände gewesen waren. Jetzt gab es noch zwei Schlafzimmer, eines für Gäste, die fast niemals kamen. Mein Glück und die schlimme Geschichte machten mir ein schlechtes Gewissen, zumindest anfangs.
    Wie es Russen beigebracht wird, zogen sie die Schuhe aus, und wir gingen in die Küche. Mascha setzte sich auf meinen Schoß und küsste mich. Ihre Lippen waren kalt und kräftig. Ich sah zu Katja hinüber; sie lächelte. Ich ahnte, dass sie auf etwas aus waren, doch gab es in meiner Wohnung nichts, was ich so sehr begehrte wie Mascha, und ich nahm nicht an, dass sie mich umbringen wollten. Mascha nahm mich bei der Hand und führte mich ins Schlafzimmer.
    Ich ging zum Fenster, um die Vorhänge
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