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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
Autoren: A.D. Miller
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Licht der uralten Leuchtstoffröhren, die mich jedes Mal, wenn ich mit der Metro fuhr, glauben ließen, ich sei ein Komparse in irgendeinem paranoiden Siebziger-Jahre-Film mit Donald Sutherland in der Hauptrolle. Am Bahnhof Puschkinskaja angekommen, betrat ich den Fahrstuhl mit seinen phallischen Lampen, hielt, wie ich es immer tat, die schweren Glastüren der Metro für denjenigen auf, der nach mir kam, und suchte mir meinen Weg durch das Labyrinth der niedrigen Gänge unter dem Puschkin-Platz. Dann hörte ich sie schreien.
    Sie war etwa fünf Meter hinter mir und schrie nicht bloß; sie kämpfte mit einem hageren, Pferdeschwanz tragenden Mann, der ihr die Handtasche stehlen wollte (eindeutig eine gefälschte Burberry), und rief um Hilfe. Die Freundin, die überraschend an ihrer Seite aufgetaucht war – Katja, wie sich später herausstellte –, stimmte in ihr Geschrei ein. Anfangs habe ich nur zugesehen, aber der Mann holte mit der Faust aus, als wollte er zuschlagen, und hinter mir hörte ich jemanden brüllen, man solle doch endlich was unternehmen. Also lief ich zum Hageren und riss ihn am Kragen zurück.
    Er gab die Tasche auf und hieb mit den Ellbogen nach mir, traf aber nicht. Ich ließ ihn los; er verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Sekundenschnell war alles vorbei, und ich hatte ihn nicht einmal genau zu Gesicht bekommen. Er war jung, vielleicht zehn Zentimeter kleiner als ich, und wirkte seltsam verlegen, trat mit dem Fuß zu, erwischte mich am Schienbein, ohne mir weh zu tun, rappelte sich auf und rannte los, durch die Unterführung und am anderen Ende die Treppe hinauf, die zur Twerskaja führte – Moskaus Oxford Street, wenn auch mit wild in zweiter Reihe parkenden Autos, eine Prachtstraße, die vom Puschkin-Platz zum Roten Platz führt. Am unteren Treppenende standen zwei Polizisten, nur waren die viel zu beschäftigt, eine Zigarette zu rauchen und nach Ausländern Ausschau zu halten, die sie ärgern konnten, als dass sie auf einen Straßenräuber geachtet hätten.
    »Spasibo«,
sagte Mascha. ›Danke.‹ Sie nahm die Sonnenbrille ab.
    Sie trug enge Jeans, braune, kniehohe Lederstiefel und eine weiße Bluse, an der ein Knopf mehr als unbedingt nötig geöffnet war. Darüber hatte sie einen dieser komischen Herbstmäntel der Breschnew-Ära an, wie sie oft von Russinnen getragen werden, die nicht viel Geld haben. Von nahem sehen sie aus, als wären sie aus Teppichresten oder Strandhandtüchern zusammengestoppelt, oben herum ein Katzenfellkragen, von weitem aber erinnern junge Frauen in solchen Mänteln an die Venusfallen aus einem Spionagethriller des Kalten Krieges. Mascha hatte eine grade, knochige Nase, blasse Haut sowie langes, goldbraunes Haar und hätte mit einem bisschen mehr Glück durchaus in einem überteuerten Restaurant namens Ducal Palace oder Hunting Lodge sitzen, schwarzen Kaviar löffeln und nachsichtig einem Nickelkrösus oder Ölmagnaten zulächeln können. Vielleicht macht sie das heute auch, aber irgendwie habe ich da so meine Zweifel.
    »Oi, spasibo«,
sagte ihre Freundin und drückte die Finger meiner rechten Hand. Ihre Haut war warm, der Griff leicht. Ich schätzte die mit der Sonnenbrille auf Anfang zwanzig, vielleicht dreiundzwanzig; ihre Freundin wirkte jünger, höchstens neunzehn, wenn überhaupt. Sie trug weiße Stiefel, einen pinkfarbenen Minirock aus Kunstleder und eine dazu passende Jacke, hatte eine kleine Stupsnase, glattes, blondes Haar und dieses freimütige, einladende Lächeln russischer junger Frauen, ein Lächeln, das meist mit direktem Blickkontakt einhergeht, eines wie bei dem Jesukind, das wir mal gesehen haben – erinnerst du dich? – in dieser Kirche in dem Dorf an der Küste von Rimini; ein altes, weises Lächeln im kindlichen Gesicht, ein Lächeln, das sagt:
Ich weiß, wer du bist; ich weiß, was du willst; und ich weiß das schon seit meiner Geburt
.
    »Nitschewo«,
antwortete ich. (Nichts zu danken.) Und setzte dann auf Russisch hinzu. »Alles in Ordnung?«
    »Wso normalno«,
sagte die Sonnenbrillenfrau.
    »Charascho«
(gut).
    Wir lächelten uns an. Die penetrante, ganzjährige Wärme der Metro ließ meine Brille beschlagen. Ich weiß noch, dass aus einem der CD -Kioske Folkmusik dudelte, hingeraspelt von einem dieser betrunkenen russischen Sänger, die sich anhören, als hätten sie bereits im Mutterleib mit dem Rauchen angefangen.
    In einem parallelen Universum, einem anderen Leben, ist dies das Ende der Geschichte. Wir verabschieden uns, ich
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