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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.D. Miller
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fahre am Nachmittag zurück in meine Wohnung und gehe am nächsten Tag wieder ins Anwaltsbüro. In jenem Leben bin ich womöglich noch da, noch in Moskau, habe eine andere Stelle gefunden, bin geblieben, nie nach Hause zurückgekehrt, habe dich nie kennengelernt. Die beiden Frauen wären weitergegangen, hätten was oder wen auch immer kennengelernt, nur nicht mich. In mir aber brannte dieses Gefühl, wie es jeder kennt, der etwas Riskantes unbeschadet übersteht, ein Hochgefühl, weil man Gutes getan hat. Eine edle Tat an einem brutalen Ort. Ich war ein kleiner Held; sie ließen es mich sein, und dafür war ich dankbar.
    Die Jüngere lächelte noch, die Ältere aber sah mich nur an. Sie überragte ihre Freundin, war eins fünfundsiebzig oder eins achtundsiebzig und mit Stöckelschuhen so groß, dass sich ihre Augen mit meinen auf einer Höhe befanden. Es waren schöne, grüne Augen. Irgendwer musste irgendwas sagen, und sie sagte auf Englisch: »Wo kommen Sie her?«
    »Aus London«, antwortete ich. Ursprünglich komme ich nicht direkt aus London, wie Du ja weißt, aber jedenfalls ungefähr. Auf Russisch fragte ich dann: »Und Sie? Woher kommen Sie?«
    »Wir leben jetzt in Moskau«, erwiderte sie. Ich hatte mich an dieses Sprachenspiel schon gewöhnt. Die russischen jungen Frauen sagen gern, sie wollen ihr Englisch verbessern. Manchmal aber wollen sie einem auch das Gefühl vermitteln, man gäbe den Ton an, sei zwar in ihrem Land, aber sicher in der eigenen Sprache.
    Wieder Lächeln. Pause.
    »Tak, spasibo«,
sagte die Freundin. (Also, danke schön.)
    Keiner von uns rührte sich. Dann sagte Mascha: »Wohin gehen Sie?«
    »Nach Hause«, antwortete ich. »Und Sie?«
    »Wir gehen nur spazieren.«
    »Poguliaem«,
sagte ich. (Gehen wir.)
    Und das taten wir.
    *
    Es war Mitte September, jene Zeit des Jahres, die auch die Russen ›Altweibersommer‹ nennen – ein bittersüßer Hauch samtiger Wärme, der meist aufkommt, wenn die Bäuerinnen ihre Ernte eingebracht haben und sich in$Z$ Moskau die letzte Gelegenheit bietet, unter freiem Himmel auf den Plätzen und am Bulwar zu trinken (jener herrlichen alten Straße um den Kreml mit Rasenflächen zwischen den Fahrspuren, kleinen Parks, Bänken sowie Statuen berühmter Schriftsteller und vergessener Revolutionäre). Es ist die schönste Jahreszeit für einen Besuch; allerdings bin ich mir nicht sicher, ob wir beide je hinfahren werden. Die Stände vor den Metrostationen bieten bereits ihre Kunstfellhandschuhe aus China feil, doch stehen auf dem Roten Platz noch Touristen in langen Reihen an, um durch Lenins Mausoleum, dieses Monstrositätenkabinett, geführt zu werden. An den warmen Nachmittagen trägt die Hälfte der Frauen in der Stadt immer noch so gut wie nichts.
    Wir gingen die glatten, schmalen Stufen der Treppe aus dem Metrotunnel nach oben zum Platz und kamen vor dem armenischen Supermarkt nach draußen, überquerten die Straße, auf der sich der Verkehr staute, und eilten zum breiten Gehweg mitten auf dem Bulwar. Am Himmel hing nur eine Wolke, zudem die flauschige Rauchfahne irgendeines Fabrikschornsteins oder innerstädtischen Kraftwerks, kaum sichtbar vor dem frühabendlichen Blau. Es war schön. Die Luft roch nach billigem Benzin, Grillfleisch und Lust.
    Die Ältere fragte auf Englisch: »Was ist Ihre Arbeit in Moskau? Oder ist das ein Geheimnis?«
    »Ich bin Anwalt«, erwiderte ich auf Russisch.
    Sie unterhielten sich rasch miteinander, für mich zu schnell und zu leise, um sie verstehen zu können.
    Dann sagte die Jüngere: »Wie viele Jahre Sie sind schon in Moskau?«
    »Vier«, antwortete ich, »fast vier Jahre.«
    »Gefällt es Ihnen?«, fragte die Sonnenbrillenfrau. »Gefällt Ihnen Moskau?«
    Ich sagte, dass mir die Stadt sehr gut gefiele, was sie meiner Meinung nach auch hören wollte. Wie mir nicht entgangen war, besaßen die meisten Russen so etwas wie einen reflexhaften Nationalstolz, auch wenn ihnen nichts lieber wäre, als so schnell wie möglich verschwinden und nach Los Angeles oder an die Côte d’Azur ziehen zu können.
    »Und was arbeiten Sie?«, fragte ich auf Russisch.
    »Ich arbeite in einem Geschäft. Für Handys.«
    »Wo ist das?«
    »Auf der anderen Flussseite«, sagte sie. »Nicht weit von Tretjakow-Galerie.« Nach einigen wortlosen Schritten setzte sie noch hinzu: »Sie sprechen schönes Russisch.«
    Sie übertrieb. Ich sprach besser Russisch als die meisten Teppiche einsackenden Banker und wichtigtuerischen Berater der Stadt, die

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