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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
Autoren: A.D. Miller
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zum Ufer sollte das Öl abtransportieren.
    Narodneft bereitete sich darauf vor, einen Großteil seiner Aktien an der New Yorker Börse notieren zu lassen, weshalb die Geschäftsbücher gut aussehen mussten. Damit sich die Projekthaftung aber nicht negativ auf die Bilanz auswirkte, hatte das Management einen Partner gesucht und schließlich eine unabhängige Firma gegründet, die das Projekt umsetzen sollte. Letztere wurde auf den britischen Virgin Islands registriert. Und ihr Repräsentant war der Kosak.
    Eigentlich mochte ich den Kosaken, jedenfalls zu Anfang, und ich glaube, auf gewisse Weise, auf seine Weise, hat er mich auch gemocht. Irgendwas machte ihn liebenswert – vielleicht dieser unverfrorene Hedonismus oder seine blasierte Art der Brutalität. Allerdings wäre es wohl präziser, wenn ich sagte, dass ich ihn beneidete. Er war, zumindest vertikal gesehen, ein kleiner Mann, gerade mal eins fünfundsechzig, also einen halben Kopf kleiner als ich, und trug eine Boy-Group-Ponyfrisur, einen Zehntausend-Dollar-Anzug und das Lächeln eines Mörders. Bei ihm rechnete man ebenso mit einem Augenzwinkern wie mit drohender Gefahr, und er hatte nichts bei sich, als er aus dem Fahrstuhl glitt – keine Aktentasche, keine Papiere, keine Anwälte –, nur einen Bodyguard mit rasiertem, turmförmigem Schädel, einen Panzer von einem Mann.
    Ich hatte ein Mandatsschreiben aufgesetzt, eine Art vorläufigen Vertrag, den der Kosak benötigte, um im Namen des Joint Ventures gegenzeichnen zu können. Ein paar Tage zuvor war eine Kopie an seine Anwälte gefaxt worden: Die federführende Bank, der es oblag, das nötige Geld aufzubringen, zog zur Risikominderung noch einige weitere Banken heran, woraufhin der Kosak zusicherte, sich woanders kein Kapital zu leihen. Wir führten ihn ins verglaste Sitzungszimmer in der Ecke unseres Großraumbüros. Wir, das waren mein Boss Paolo, Sergei Borisowitsch, einer der aufstrebenden jungen Russen unserer Zentralabteilung, und ich. Paolo war über vierzig, aber noch schlank und so weltmännisch, wie es Italiener mittleren Alters oft sind, mit einer ansprechenden, weißen Strähne im Haar und einer Frau, der er tunlichst aus dem Weg ging. Anfang der neunziger Jahre war er eines Morgens in seinem komfortablen Mailänder Bett aufgewacht, hatte einen Hauch vom Geruch des Geldes gewittert, der aus dem Osten herüberwehte, war ihm gefolgt und zu lang geblieben. Sergei Borisowitsch dagegen besaß das Gesicht einer verblüfften Kartoffel und war eher klein. Sein Englisch hatte er im Rahmen eines Austauschprogramms in North Carolina gelernt, um danach bei MTV anzufangen, weshalb ›extrem‹ noch immer zu seinen Lieblingswörtern zählte.
    Wir reichten dem Kosaken das Dokument. Er blätterte die erste Seite um, blätterte zurück, schob die Akte beiseite, machte es sich in seinem Sessel bequem und blies die Backen aus. Dann blickte er sich um, als wartete er darauf, dass etwas passierte – vielleicht eine Stripshow oder eine Messerstecherei. Durch die Fenster im neunten Stock blinzelten die blauen und goldenen Zwiebeltürme des Nowospasski-Klosters über die Moskwa zu uns herüber. Und dann fing der Kosake an, Witze zu reißen.
    Er besaß jene Art Humor, die einer Kriegshandlung glich. Lachte man über seine Witze, hatte man ein schlechtes Gewissen, lachte man nicht, fühlte man sich bedroht. Persönliche Fragen klangen stets wie der Auftakt zu einer Erpressung.
    Er erzählte, er sei ein Kosak aus Stawropol, zumindest meine ich, mich zu erinnern, dass er irgendwo da unten aus der Pampa im Süden kam. Ob wir wussten, was ein Kosak ist? Es sei ihre historische Pflicht, erklärte er, in diesem Drecksloch Russlands unter den ›Kanaken‹ für Ruhe zu sorgen. Warum besuchten wir ihn nicht mal im Norden, in dem Ölhafen, wo er seine neue Stelle hatte? Er würde uns dann mit der Gastfreundschaft der Kosaken bekannt machen.
    »Eines Tages vielleicht«, erwiderte Paolo. Ich sagte, ich hätte eine Frau in Moskau, der es nicht gefiele, wenn ich die Stadt verließe. Deshalb weiß ich definitiv, dass dies am selben Tag wie mein Abendessen mit Mascha und Katja war: Ich erinnere mich nämlich, dass sich diese Worte, als ich sie aussprach, nur wie eine Dreiviertellüge anfühlten, gleichsam wie eine bloß temporäre Lüge.
    »Na ja«, sagte der Kosake auf Russisch, »Sie können doch zwei Frauen haben – eine in Moskau, eine in der Arktis.«
    Er rauchte eine Zigarette und fletschte dabei die Zähne. Dann
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