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Laufend loslassen

Laufend loslassen

Titel: Laufend loslassen
Autoren: Gerhard Mall
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Dienstag, 29. Mai
    Gut geschlafen. Bibeleinführung mit Frère Wolfgang: Jesus unterwegs auf dem Weg nach Jerusalem. Er geht mehrmals, das erste Mal als Baby mit seinen Eltern. Für die Eltern gibt es drei Gründe: die vorgeschriebene Reinigung der Mutter, die Segnung des Kindes und die Opfergabe, die hier klein ist. Dahinter steht die Hingabe des Lebens in Liebe und innerer Freiheit. Simeon, den sie im Tempel treffen, lebt in der Erwartung des Messias, der Heilige Geist ruht auf ihm, er spricht zu ihm und er führt ihn in den Tempel zur richtigen Zeit. Denn der Heilige Geist spricht nicht nur, er handelt.
    Frère Wolfgang spricht weiter. Am Ende stellt er die Frage: „Was in meinem Leben ist nach vorne gewandt?.“ Das Einzige, was mir einfällt, ist: Ich will den Chemin St. Jacques und den Camino gehen. Die Frage arbeitet in mir. Meine letzten sechs Jahre war ich rückwärtsgewandt und voller Resignation. Als meine Frau sich vor sechs Jahren von mir trennte, war das für mich, als wäre mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Für einen objektiven Beobachter war die Trennung nicht überraschend gekommen. Ich aber hatte trotz der immer größer werdenden Schwierigkeiten und Distanz auf die Unverbrüchlichkeit unserer Beziehung gesetzt und die Augen vor der Realität verschlossen. Plötzlich stand ich vor dem Nichts. Dazu kam schiere Existenzangst. Meine Arbeit als freier Referent in der Erwachsenenbildung war seit Jahren ein ständiger Kampf um neue Aufträge, die den Wegfall von vielen anderen Arbeitsfeldern im Bereich der Kirche ausgleichen sollten. Manchmal kam ich mir vor wie auf einer Meeresinsel, wo man auf der einen Seite Land gewinnt, während an anderer Stelle der Sturm die Küste wegreißt. Jahrelang habe ich mich daran geklammert, dass meine Ehe doch noch zu retten sei und mich aufgerieben an dieser vagen Hoffnung. Aus dem letzten Sommerurlaub kam ich zurück wie einer, der in einen leeren Autotank wieder fünf Liter einfüllt, aber weiß, dass er eine weite Reise durch öde Gegenden vorhat. Da war mir dann klar: Entweder ich gehe unter oder ich verordne mir einen radikalen Einschnitt - den Jakobsweg.
    Nach der Bibeleinführung hole ich mir meinen ersten Stempel für meinen Pilgerpass am Empfang ab und werde mit guten Wünschen für die Reise versehen. Am Nachmittag begegne ich meinem Sicherheitsbedürfnis und suche den Jakobsweg zum nächsten Ort, Flagy, wo ich morgen auf den Fernwanderweg GR 76 nach Cluny stoßen will. Ich finde ihn leicht. Unterwegs verweile ich kurz am Grab von Frère Roger, dem Gründer der Kommunität von Taizé, bei dessen Trauerfeier ich 2005 in Taizé war. Das Bild des alten weisen Mannes, gebeugt vom Alter, trotzdem mit großer innerer Kraft, der umgeben von einer Schar Kinder am Ende des Gebets in der Kirche langsam durch die Reihen der Brüder nach vorne geht, wird mir immer in Erinnerung bleiben. Ich bin dankbar, vor über zehn Jahren durch die Initiative meiner Frau mit der Familie den Weg hierher gefunden zu haben.
    Danach bleibe ich eine Zeit lang in der alten, feierlich dunklen kleinen romanischen Kirche im Ortskern, wo die Communité ihren Anfang genommen hat. In einem stillen Gebet bitte ich für das Gelingen der Pilgerreise und bete für alle, die auf diesem Weg unterwegs sind.
    Die erste Postkarte ist weg. Sie ist für Ruth und Lothar bestimmt. Ich kenne die beiden seit Jahren. Irgendwann einmal haben sie aus einem meiner Seminare wichtige Impulse für sich gewonnen und danken es mir immer wieder, in diesem Jahr durch Glück- und Segenswünsche zu meinem runden Geburtstag. Zwei Bändchen, verbunden mit einem wunderbaren Erlebnis, das sie mir schilderten, schmücken meinen Rucksack. Ich habe mich über die guten Wünsche, die auch meinen Pilgerweg einschlossen, sehr gefreut. Eines der Bändchen trägt meine Jakobsmuschel.
    Beim Abendessen treffe ich Bernhard. Zufällig bin ich von einem kalten Metallstuhl auf die Holzbank am Podium des Zeltes gewechselt, das als Vortrags- und Esshalle dient. Da sitzen wir dann links und rechts neben einer jungen Französin, mit der wir uns beide unterhalten. So finden sich zwei Pilger unter etwa 3000 Menschen, die in dieser Woche in Taizé sind. Er ist von Esslingen unterwegs nach Santiago, Gärtner von Beruf, und erzählt, wie schön es ist, mit seinem gärtnerischen Blick durch die Natur zu wandern. Er will übermorgen weiter. Ich gebe ihm meine Landkarten zum Kopieren.
     

Mittwoch, 30. Mai
    Um sieben Uhr aufgestanden.
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