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Die Eisfestung

Titel: Die Eisfestung
Autoren: Jonathan Stroud
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    »Nein, das stimmt nicht! Und selbst wenn ich das getan habe, es sind doch immer zwei daran beteiligt. Du hast mich auch sehr verletzt, Marcus.«
    Nicht mehr weit unter ihnen verzog Emily ungläubig und angewidert das Gesicht. Marcus’ Vater kannte wirklich keine Grenzen! Bei jeder kleinen Bewegung, die sie machte, stachen ihr die spitzen Steine der Mauerfüllung in die Handflächen und durch den Stoff ihrer Jeans in die Knie. Sie konnte nicht schneller, die Mauer war zu steil, aber wenn sie es noch ein Stück höher schaffte, würde Marcus sie vielleicht hören können.
    Der klang jetzt höhnisch. »Dich verletzt? Tatsächlich? Wie das denn?«
    Die Stimme zögerte, sprach dann weiter. »Es war für uns beide eine schwere Zeit, als deine Mutter...«
    »Wie hab ich dich denn verletzt?«
    »Die Dinge, die du über mich erzählt hast.«
    »Was soll ich denn erzählt haben?«
    »Dein Gesicht – dass ich das getan habe...«
    »Na und? Hast du doch! So gut wie.«
    »Marcus -«
    »Wenn ich vor dir nicht solche Angst gehabt hätte, dann wär ich nicht so schnell zurückgeradelt, oder? Ich wäre vorsichtiger gewesen. Aber ich hatte solchen Schiss, deshalb hab ich an der Ecke nicht aufgepasst. Deshalb bin ich ausgerutscht. Kapierst du das? Du bist schuld daran.«
    »Aber ich hab dich nicht geschlagen, Marcus. Das ist nicht das Gleiche...«
    »Ist es fast.«
    Emily hatte aufgehört, noch weiter die Mauer hochzuklettern. Sie presste ihr Gesicht in den Schnee. Sie fühlte sich, als ob ihr jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt hätte – sie schnappte nach Luft. Ihr war plötzlich speiübel.
    Er hatte gelogen. Der Polizist hatte die Wahrheit gesagt. Marcus hatte alles erfunden. Das Gesicht, die Schläge, alles. Lügen... alles Lügen.
    Ob es seine Begeisterung für die Burg war, was ihn angetrieben hatte, oder ob es der Hass auf seinen Vater war, wusste sie nicht, und es war ihr auch egal. Sie hing hier in Kälte und Schnee, klammerte sich an einer Mauer fest und riskierte Kopf und Kragen für ihn. In ihrem Kopf drehte sich alles. Das alles, dieses ganze verdammte Durcheinander, war seine Schuld! Seine Erzählungen, dieses Netz aus Lügen und Halbwahrheiten, diese Mischung aus Geschichte, Abenteuer und Erfindung hatte sie alle beide verlockt und immer tiefer verstrickt. Sie hatten ihm seine Geschichten immer wieder geglaubt, er konnte ihnen die haarsträubendsten Dinge erzählen. Sie waren beide absolute Idioten – Simon, der jetzt in einem Polizeiauto durch die Dunkelheit fuhr, und sie selbst, Emily, wie sie da im Schnee ganz oben in dieser Burgruine hing. Unrettbare Idioten. Marcus hatte sie beide kräftig reingelegt.
    Trotz ihrer Verzweiflung hörte sie weiter zu, was die beiden miteinander sprachen.
    »Wir sollten jetzt nicht weiter darüber streiten, Marcus. Keiner will hier so genau wissen, wer was wann gesagt hat. Bitte komm runter.«
    »Komm ich nicht.« Emily fand, dass seine Stimme sich nach einem Kleinkind anhörte, das sich in seinen Schmollwinkel zurückgezogen hat.
    »Was ich nicht verstehe – was hat dich überhaupt hierher getrieben? Was willst du ausgerechnet hier ?«
    Marcus antwortete nicht.
    »Ist ein guter Spielplatz, oder? Gut für alle möglichen Spiele – ist es das?«
    » Spiele? So was kannst nur du denken.«
    »Dann erklär’s mir. Warum bist du hierhergekommen? Ich versteh es nicht.«
    Marcus antwortete nicht sofort, und als er es tat, kam seine Antwort nur widerwillig und stockend. »Ich... es ist hier ein besonderer Ort. Ich fühle mich hier so...« Er machte eine Pause, versuchte es dann noch einmal. »Es... es ist hier viel besser als draußen«, sagte er. »Da draußen gibt es nichts für mich. In der Welt. Nichts.«
    Ein verstörtes Schweigen. »Was soll das denn für eine Antwort sein, Marcus?« Die Stimme klang etwas gereizt. »Du redest sinnloses Zeug daher. Deine Mutter hat immer gesagt, dass du ein kluger Junge bist. Was, meinst du, würde sie jetzt von dir denken, wenn sie dich gerade gehört hätte?«
    Das weckte Marcus aus seinem Dämmerzustand auf. »Woher willst du wissen, was sie von mir denken würde?«, brüllte er. »Geh zum Teufel!«
    Sein Vater gab einen wütenden Seufzer von sich. »Okay, das reicht jetzt. Ich hab genug von diesem Unsinn. Wir alle hier haben genug davon. Ich komme jetzt und hole dich runter.«
    Emily hörte Schritte und einen verzweifelten Aufschrei von Marcus.
    »Nein! Geh wieder zurück! Ich spring runter, wenn du noch näher kommst!«
    Leise
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