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Die Eisfestung

Titel: Die Eisfestung
Autoren: Jonathan Stroud
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hätte dann nie den Einfall gehabt, hier im Kaminzimmer zu übernachten. Es war alles seine Schuld! Sie wären nie von so viel Polizisten umzingelt worden und von wer weiß wie vielen Feuerwehrleuten, Sozialarbeitern und anderen Wichtigtuern noch dazu. Wahrscheinlich stand draußen vor dem Eingang auch schon ein Reporter. Wenn Marcus mit seinen blöden Ideen nicht gewesen wäre, dann hätte es höchstens passieren können, dass Harris sie noch mal am Kragen gepackt hätte, weil sie unerlaubt Schlitten gefahren waren. Wie harmlos das gewesen wäre!
    Ohne Marcus wären sie nie in diese völlig verfahrene Situation gekommen. Aber es war sein Vater, der ihn so weit getrieben hatte. Sein brutaler Vater, der ihn grün und blau geschlagen hatte. Da konnte der Polizist sagen, was er wollte. Auf dem Eis ausgerutscht – was war das denn für eine lahme Ausrede? Marcus konnte nicht anders, er musste von zu Hause wegrennen, sein Vater hatte ihn dazu gezwungen – und jetzt hatten sie ihn wieder. Er war in der Falle. In die Enge getrieben, umstellt, belagert, geschnappt.
    Sie schaute wieder zu der einsamen Gestalt auf den Zinnen. Marcus kauerte jetzt auf den Steinen über dem Abgrund, er musste am Rande seiner Kräfte sein und mit jedem starken Windstoß schwankte er ein wenig. Von den Leuten auf dem Turm waren wieder einzelne Stimmen zu hören, wahrscheinlich versuchten sie, ihm gut zuzureden. Emily konnte sich vorstellen, was sie ihm zuriefen – wie sie ihn anflehten, ihn beruhigen wollten, ihm Versprechungen machten. Und dann wusste sie plötzlich, mit großer Schärfe und Klarheit, noch etwas anderes, nämlich dass Marcus auf keine dieser Stimmen hören würde. Er war in die Enge getrieben, er war hilflos, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er sich ergeben würde. Dazu war er viel zu stolz.
    Er würde nicht aufgeben. Er würde tatsächlich eher in die Tiefe springen. So dumm war er.
    Emilys Hände schmerzten, weil sie das Seil schon so lange umklammert hielt. Sie hatte die Füße gegen die Mauer gestemmt, auf der Schwelle zur Freiheit, in ein paar Minuten konnte sie unten sein und davonrennen. Doch auf der anderen Seite der Burg kauerte Marcus auf einem Stein und ringsum lauerte der Tod. Sie würden nicht zu ihm durchdringen mit dem, was sie sagten. Sie sprachen nicht dieselbe Sprache wie er. Marcus hatte seine inneren Schutzmauern hochgezogen, alles, was sie sagten, würde an ihnen abprallen. Er würde entweder springen oder irgendwann in die Tiefe stürzen.
    Emily spürte, wie ihr Blut an den Schläfen pochte. Sie durfte ihn nicht verlassen. Sie kannte ihn besser als alle die Leute dort drüben. Mechanisch setzte sie Hand vor Hand, bis sie sich wieder auf die Mauerkante hochgezogen hatte. Dann duckte sie sich unter dem Geländer hindurch und ließ sich wieder auf den Mauerumgang im Innern der Burg fallen. Es kümmerte sie nicht mehr, ob sie entdeckt wurde oder nicht. Sie ging den Weg zurück, den sie gerade hergekommen war.
     
    Als sie schon fast in der Vorhalle angekommen war, wurde sie durch einen plötzlichen Lärm alarmiert. Das konnte nur Gefahr bedeuten. Sie presste sich an die dunkle Mauer. Männer kamen die Wendeltreppe heruntergestürmt. Ihre Schritte hallten auf den Stufen, aber sonst war kein Laut zu hören. Sie bogen nach links ab und verschwanden. Einen Augenblick lang war Emily verblüfft, doch dann verstand sie.
    Sie räumen das Feld, dachte sie. Sie ziehen sich zurück, um den Druck von ihm zu nehmen.
    Als der Exodus abgeschlossen war, setzte Emily ihren Weg in die Vorhalle fort. Gedämpfte Stimmen von oben verrieten ihr, dass nicht alle gegangen waren – die Verhandlungen mit Marcus wurden noch fortgesetzt. Sie konnte seine Stimme heraushören, sie klang lauter und schriller als das ruhige Gemurmel des Verhandlungsführers. Schien so, als ob Marcus sich nicht besänftigen ließ.
    Emily stieg zum allerletzten Mal die Wendeltreppe hoch, bis zu dem Raum, der ein Stockwerk höher lag, direkt über der Vorhalle. Sie hatte ihn bisher noch nicht genauer erforscht. Jemand hatte dort eine Lampe abgestellt, an der Wand neben der Wendeltreppe. Er teilte den Raum in zwei Hälften, sein grelles gelbes Licht strahlte die Decke und die gegenüberliegende Mauer an, der Rest lag im Dunkeln. Es hatte früher einmal vier weitere Ausgänge gegeben. Drei davon waren durch Gitterstäbe und Maschendrahtzaun zum Schutz gegen die Vögel versperrt. Aber der vierte Türbogen, hinter dem es stockfinster war, schien nicht
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