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Die Eisfestung

Titel: Die Eisfestung
Autoren: Jonathan Stroud
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Deirdre und Katie waren blöde Hühner und mit den Allen-Brüdern wollte sie nichts zu tun haben. Nur Simon, der Jüngste, ging noch auf die Schule; die anderen machten nichts anderes, als irgendwo rumzuhängen und die Zeit totzuschlagen. Martin Allen, der Älteste, war ein richtiger Schlägertyp, aber man hatte ihn im Dorf schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Emily hatte gehört, dass er im Gefängnis war.
    Als sie sich von der Gruppe wieder ein gutes Stück entfernt hatte, hielt sie an. Sie drehte den Schlitten in die richtige Stellung, auf den oberen Rand des Burggrabens, und setzte sich darauf. Unter ihr fiel der Boden steil ab, ein trügerisches, weiches Weiß, das alle Felsvorsprünge und Löcher verdeckte. Emily hielt kurz inne, biss die Zähne zusammen und stieß sich ab.
    Aufstäubender Pulverschnee, eiskalter Fahrtwind, ein weißer Wirbel. Dann verlangsamte sich der Schlitten und kam mit einem Ruck auf der gegenüberliegenden Seite, wo der Graben wieder anstieg, zum Stillstand, ihr Körper schnellte nach vorne, und ihre ausgestreckten Stiefel bohrten sich in den Schnee.
    Reglose Stille. Das alles hatte nur drei Sekunden gedauert.
    Emily saß da, schnappte nach Luft, spürte das Adrenalin im Blut. Lächelte.
    Dann traf sie etwas im Gesicht.
    Es stieß ihren Kopf zur Seite und ließ sie aufschreien, als ihr der spitze kalte Schmerz in die Wange fuhr. Dass das so plötzlich kam, verwirrte sie. Sie wusste, dass es ein Schneeball war, aber er fühlte sich an wie ein Faustschlag.
    Lautes Gelächter. Vor ihrem Gesicht flog pfeifend noch ein Schneeball vorbei. Ein weiteres Wurfgeschoss prallte gegen ihr Bein, zersplitterte in Schneescherben, ein paar davon trafen sie in die Augen.
    Emily kämpfte sich auf die Füße hoch, verhedderte sich in der Schlittenleine, halb blind von den Tränen, die ihr bei dem ersten Treffer in die Augen geschossen waren. Wie durch regennasse Scheiben sah sie die Angreifer auf dem Grund des Wassergrabens stehen, nicht weit weg von ihr. Noch mehr Schneebälle sausten durch die Luft, einer traf ihren Brustkorb, ein anderer ihren Magen. Sie bückte sich nach dem Seil, drehte sich um und begann, durch den tiefen Schnee davonzustapfen.
    Sie rutschte aus, wäre fast hingefallen, richtete sich wieder auf – und dann bekam sie einen fürchterlichen Schlag auf den Hinterkopf, dass es ihre Mütze herunterriss, Eisstückchen prasselten herab, und sie spürte, dass sie jetzt gleich losheulen würde.
    Sie stapfte tapfer weiter und ließ die Mütze einfach liegen. Davonrennen war nicht möglich, dafür waren die Schneeverwehungen viel zu hoch, aber allmählich wurde der Kugelhagel spärlicher, und das Hohngelächter wurde schwächer. Noch einmal traf sie ein Wurfgeschoss am Bein, ein anderes zischte an ihrem Ohr vorbei, dann war der Angriff vorbei.
    Emily setzte ihren Weg in der Senke des Burggrabens fort, vor Zorn und Verzweiflung liefen ihr Tränen die Wangen herunter. Endlich wagte sie es, einen Blick nach hinten zu werfen, und merkte, dass sie längst um die Kurve des Burggrabens gebogen war und die anderen sie nicht mehr sehen konnten.
    Sie trottete langsam vor sich hin. Der Graben war auf beiden Seiten zu steil, um hochklettern zu können, aber sie wusste, wenn sie weiterging, würde sie bald zu der Stelle kommen, wo Stufen zur Brücke hinaufführten. Danach konnte sie oben zu dem Loch in der Hecke zurück und dann nach Hause.
    Ein Bruchstück der äußeren Ringmauer erhob sich über der rechten Böschung des Grabens aus dem Schnee. Emily wünschte, sie könnte die Mauer auf die Idioten herabstürzen lassen, die sie gerade angegriffen hatten. Sie hatte aufgehört zu weinen und stieß bei jedem Schritt wütend gegen den Schnee. Katie Fern, Deirdre Pollard – das würden die beiden noch bereuen, da konnten sie Gift drauf nehmen. Aber bei den Jungs war nichts zu machen, keine Chance – die waren einfach zu stark, sogar dieser dämliche Simon war stärker als sie.
    Sie hasste sie! Sie hasste das ganze Dorf! Alle dort waren dumm und beschränkt, sie fühlte sich immer total einsam, und es gab nichts, womit man sich halbwegs die Zeit vertreiben konnte. Schlittenfahren war die einzige Möglichkeit, um der Langeweile der Weihnachtsfeiertage zu entkommen- und jetzt hatte sie dafür Prügel bekommen! Sie konnte auch nirgendwo anders hin. Im Umkreis von 20 Meilen war hier alles flach – ein endloses, langweiliges Tischtuch aus grauweißen Feldern, durchzogen von Eisfurchen, Gräben und Bächen.
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