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Die Eisfestung

Titel: Die Eisfestung
Autoren: Jonathan Stroud
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an Emily gerichtet. »... dann gehst du jetzt?«
    »Muss ich wohl.«
    Er tippte mit seinem Stiefel an ihren Schlitten. »Ich glaub nicht, dass Carl ihn ganz kaputt gemacht hat. Wir könnten noch ein bisschen Schlitten fahren, wenn du willst. Hab’s nicht eilig nach Hause.«
    Emily zögerte. Der erste Angriff, bei dem Simon zu der johlenden Menge in ihrem Rücken gehört hatte, steckte ihr immer noch in den Knochen. Doch dann stellte sie sich vor, wie sie den Rest des Nachmittags schweigend neben ihren Eltern auf dem Sofa verbrachte, fernsehguckte und Nüsse knabberte, von denen sie Juckreiz bekam, und war ihm für sein Angebot dankbar.
    »Okay, dann mal los«, sagte sie. »Was ist mit dir, Marcus?«
    Marcus hatte sich ein paar Schritte entfernt und scharrte mit den Schuhen im Schnee. Seine Miene hatte sich verfinstert, er blickte sie nicht an. »Nein«, sagte er. »Ich hab’s euch doch gesagt. Ich will mir die Burg ansehen.« Dann stapfte er schweigend durch den Burggraben davon, die Hände tief in den Anoraktaschen vergraben, den Kopf gesenkt, die schmalen Schultern hochgezogen.
    Simon schaute ihm nach. »Irgendwie’n komischer Typ«, sagte er.
    »Er ist schon okay. Er hat dich rausgehauen.«
    »Stimmt.«
     
    Wider Erwarten machte Emily das Schlittenfahren mit Simon großen Spaß. Sie kletterten die Böschung an der steilsten Stelle hinauf, um danach mit der höchstmöglichen Geschwindigkeit hinunterzusausen. Simon schob den Schlitten mit solcher Kraft an, dass Emily das Gefühl hatte zu fliegen, als sie über die Kante schoss. Und er war auch viel gelenkiger, als er aussah, und konnte den Schlitten problemlos den Hang hochziehen.
    Nach einer halben Stunde war der Schnee an der Stelle unterhalb der Mauer kreuz und quer von Schlittenspuren zerfurcht. Sie hörten auf und blickten zu dem grauschwarzen Winterhimmel hoch. Düstere dräuende Wolken hingen schwer über Castle Field und die ersten trägen Flocken schwebten herunter.
    »Es fängt an zu schneien«, sagte Simon. »Sollen wir gehen?«
    »Ja. Mir ist eiskalt.«
    Gemeinsam machten sie sich durch den Burggraben auf den Weg zu den Stufen, die zur Brücke hochführten. Sie stapften wortlos nebeneinander her. Doch das Schweigen fing schnell an, auf ihnen zu lasten, und Emily überlegte krampfhaft, was sie sagen könnte.
    »Danke, dass du mir meine Mütze gebracht hast«, sagte sie schließlich.
    Simon brummte: »Schon okay.« Wieder Schweigen.
    »Hättest du nicht tun müssen.«
    Schweigen. Emily fiel nichts mehr ein. Sie gingen weiter.
    Sie machte noch einen Vorstoß. »Du hast also vier Brüder?«
    Ein weiteres Brummen. »Ja. Und eine Schwester. Pauline.«
    »Du bist der Jüngste, oder?«
    »Ja. Mart ist der Älteste. Dreiundzwanzig.«
    »Und er ist der -« Emily biss sich auf die Zunge.
    »Der sitzt, wenn du das meinst.« Seine Stimme war ausdruckslos. Als ob er sich bemühte, neutral zu klingen. Er wollte bestimmt nicht gerne darüber reden. Sie würde das an seiner Stelle auch nicht wollen.
    »Ich hätte gerne Brüder«, sagte sie.
    Simon warf ihr einen schnellen Blick zu, um einschätzen zu können, ob sie das vielleicht ironisch meinte.
    »Bist du sicher?«, sagte er. »Du hast ja gesehn, wie sie sind. Prügeln mich die ganze Zeit, weil ich der Jüngste bin. Ich wünsch mir echt, ich hätt’nen jüngern Bruder. Dann könnt ich zur Abwechslung auch mal jemand verprügeln.«
    »Und deine Schwester?«
    »Die? Noch schlimmer als die anderen. Hat Tigerkrallen. Dann hast du also keine Brüder?«
    »Nein. Auch keine Schwestern. Es gibt nur mich, Mum und Dad.«
    Simon schüttelte den Kopf. »Kann ich mir nicht vorstellen, so was. Muss ruhig sein.«
    »Das ist es. Sehr.«
    Sie waren fast bei den Stufen angelangt, als der schwarzgraue Himmel plötzlich und lautlos seine Last zu entladen begann. Kleine, kaum sichtbare Flocken fielen herab, erst nur spärlich, dann immer dichter werdend; das Spätnachmittagslicht wurde langsam aufgesogen. Ein kalter Wind blies Emily und Simon die Flocken ins Gesicht, die sich auf der Haut wie Nadelstiche anfühlten.
    »Wo kommt das denn her?«, sagte Emily. »Ich kann nichts mehr erkennen.«
    »Zum Torhaus hoch«, brüllte Simon. Emily konnte ihn kaum verstehen. Der Schneesturm schlug ihr die Kapuze ihres Anoraks um die Ohren. Sie stieg langsam die ersten Stufen hinauf, bei jedem Schritt vorsichtig nach den schmalen Holzbohlen tastend, die in die Höhe führten. Die Senke des Burggrabens, links von ihr, war eine körperlose Masse aus
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