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Die Eisfestung

Titel: Die Eisfestung
Autoren: Jonathan Stroud
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versuchte sie verzweifelt, sich wieder hochzurappeln, rutschte mehrmals auf dem Eis aus.
    Marcus, verdammt noch mal... Er ist schuld daran. An allem.
    Sie hatte es wieder auf die Füße geschafft. Okay, jetzt vorsichtig über das Eis, zurück auf den festen Boden... Das wäre geschafft... weiter …
    Ein lauter Schrei hallte durch die ganze Burg.
    »Da!«
    Emily rannte um ihr Leben.
    »Die Scheinwerfer, bringt die Scheinwerfer her!«
    Alles geriet in Bewegung, Rufe ertönten, Stiefel rannten hin und her, Lichter schwirrten wie Wunderkerzen durch sämtliche Maueröffnungen. Ein großer gelber Lichtstrahl streifte über die Mauern des Rittersaals. Unsichtbare Krähen flogen aus ihren Nestern krächzend in den schwarzen Nachthimmel empor. Trotzdem erreichte Emily in diesem ganzen Durcheinander den Eckturm, sie sauste schnell wie der Wind um die Ecke und war auf der anderen Seite, nur noch wenige Meter von dem zerklüfteten Mauerstück entfernt.
    Der Suchscheinwerfer schien sie verloren zu haben. Im Schutz des Schattens schlich sie zu dem Loch in der Mauer. Jetzt – das Seil, wo war das Seil? Ihre Finger glitten suchend über das Geländer, tasteten über die verschneite Mauerkante, stießen sich an den Steinen. Schnell, schnell – sie würden gleich hinter ihr sein... Da! Sie hatte es, da lag es aufgerollt, nass, vom Schnee bedeckt, immer noch an dem Geländer festgeknotet. Mit aller Kraft, die sie noch hatte, hievte Emily das Seil hoch und ließ es in die Tiefe fallen. Das Seilende klatschte knapp über dem Boden gegen die Mauer, doch das Geräusch wurde von weiteren Rufen und Schreien überdeckt.
    Schlotternd vor Angst, kletterte Emily auf die Mauerkante. Sie griff nach dem Seil, zwängte sich unter dem Geländer hindurch und war bereit zum Abstieg. Immer noch war alles ruhig, keine Scheinwerfer, keine Polizisten, nichts.
    Sie würde es schaffen, sie würde aus der Festung fliehen.
    Dann, als sie bereits die Füße gegen die Mauer gestemmt hatte, als sie schon den ersten Schritt hinuntermachen wollte, in die Dunkelheit, in die Sicherheit, sah sie, warum niemand sie verfolgte.
    Mit einem Blick erfasste sie die ganze Situation. Durch den offenen Mauerbogen, über das gähnende schwarze Loch des Rittersaals hinweg, konnte sie den Eckturm sehen, auf den sie damals um Mitternacht hochgestiegen waren, der höchste Turm der Burg, der noch ganz erhalten war und zwei Stockwerke hoch über dem Mauerumgang aufragte. Das obere Ende des Turms war von Schweinwerfern hell erleuchtet und es drängten sich dort viele Menschen. Sie schauten alle in eine Richtung, auf die halb verfallenen Zinnen, die links von dem Turm ins Leere führten. Der Weg dorthin war durch ein hohes Gitter versperrt. Sie hätten versuchen können, über dieses Gitter zu klettern, doch das wagten sie nicht, aus Furcht, eine panische Reaktion bei der schmalen Gestalt hervorzurufen, die dort auf einem Mauervorsprung stand, wild gestikulierend und in grelles Scheinwerferlicht getaucht. Die Menschen auf dem Turm waren alle sehr still geworden.
    Emily fiel es nicht schwer zu erraten, was Marcus gerade sagte. Dafür war die Geste, mit der er in die Tiefe und die Dunkelheit zeigte, zu eindeutig. Wo er stand, war es sehr gefährlich, die Stelle befand sich ganz am Ende der noch vorhandenen Zinnen, hinter ihm brach das Mauerwerk ab. Es waren noch die Reste von zwei Pfeilern zu erkennen, doch der größte Teil der Mauer war eingestürzt. Erst ein Stockwerk tiefer ragten wieder Wände empor, doch auch hier war die Decke des darunterliegenden Raums größtenteils eingestürzt. Marcus war auf drei Seiten von gähnendem Schwarz umgeben.
    Er war in die Enge getrieben. Er konnte keinen Schritt mehr tun. Wenn er am Leben bleiben wollte.
    Er drohte damit, in die Tiefe zu springen.
    Da wurde Emily von einer rasenden Wut auf Marcus gepackt. Wie konnte er nur so bescheuert sein, so verbohrt, so unendlich dumm. Dann spring doch! Na los! War ihr doch egal! Wenn er seinen Kopf nicht dafür gebrauchen wollte, nach einer vernünftigen Lösung zu suchen, wenn er sich lieber weiter in seine Hirngespinste hineinsteigerte, statt sich den Problemen zu stellen, dann sollte er doch in die Tiefe stürzen! Sie würde jetzt nach Hause gehen, ein heißes Bad nehmen und ordentlich was essen. Wenn dann die Polizei kam, war sie wenigstens frisch und sauber.
    Marcus hatte sich selbst in diese Situation gebracht. Ohne ihn wären sie nie auf die Idee gekommen, in die Burg einzusteigen, und sie, Emily,
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