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Die einzige Zeugin

Die einzige Zeugin

Titel: Die einzige Zeugin
Autoren: Anne Cassidy
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Haus ihrer Kindheit zum ersten Mal wiedergesehen hatte, zog es Lauren erneut in die Hazelwood Road. Sie spürte, dass sie es sich noch einmal bei Tageslicht anschauen musste. Sie wollte sich direkt nach der Schule auf den Weg machen, vorher musste sie aber noch Julie Bell abschütteln.
    »Ich gehe heute nicht in deine Richtung, ich bin noch verabredet«, sagte sie, als Julie sich ihr anschloss.
    »Mit wem?«, fragte Julie. »Mit einem Jungen?«
    »Nein!« Lauren schüttelte den Kopf.
    Julie dachte immer nur an Jungs. Als sie sich das erste Mal im Kunstunterricht unterhalten hatten, war ihre erste Frage gewesen, Hattest du in Cornwall einen Freund? Lauren hatte den Kopf geschüttelt und über Julies direkte Art geschmunzelt. Ich bin in einen Typen verknallt , hatte Julie ihr anvertraut, aber ich habe einfach nicht den Mut, es ihm zu sagen.
    Lauren hatte in Cornwall einen Freund gehabt. Aber sie hatte das Thema gewechselt und Julie gefragt, wo sie das Kleid gekauft hatte, das sie gerade trug. So etwas hatte sie noch nie an einem der anderen Mädchen gesehen. Das ist Second Hand. Ich hab’s aus dem Caritas-Laden, hatte Julie gesagt und sich über das Kompliment gefreut. Dann musterte sie Laurens Haare. Mann, du hast echt eine Mähne. Darf ich dir mal eine Frisur machen?
    Als sie jetzt vor der Schule standen, verlor Julie ganz plötzlich das Interesse an der Frage, mit wem Lauren wohl verabredet war. Ihre Augen folgten einem großen dunkelhäutigen Jungen in einem Fußballtrikot, der gerade aus dem Haupteingang kam. Ryan Lassiter, ihre große Liebe.
    »Okay, dann bis später …«, sagte Lauren.
    Julie nickte ihr abwesend zu und heftete den Blick auf den Rücken des Jungen, der sich langsam durch die Schülermassen zum Bus kämpfte.
    Lauren drehte sich um und machte sich auf den Weg in Richtung Hazelwood Road. Sie ging an der Hauptstraße entlang, den Verkehrslärm in den Ohren. Sie senkte den Kopf und marschierte an den Autos, Lieferwagen und Lastern vorbei. Hin und wieder schnaufte und fauchte ein Bus und schob sich einige Meter vorwärts, bis er wieder im Stau stehenblieb. Gesichter starrten ihr aus den Fenstern entgegen, zwei alte Frauen, einige Jugendliche in Schuluniformen, ein glatzköpfiger Mann mit glänzendem Schädel. Gesichter in Nahaufnahme, wie im Traum.
    Überall in London war es so voll, alles war verstopft mit Menschen und Autos. Sie musste auf dem Bürgersteig Platz machen, um zwei junge Frauen mit ihren Kinderwagen durchzulassen. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und fasste es im Nacken zusammen. Mit der einen Hand hielt sie es fest, während sie es mit einem Haargummi zusammenband. Gleich war es nicht mehr ganz so warm. Irgendwo ging ein Alarm los, ein schrilles Geräusch, das von einem der parkenden Autos kommen musste. Es schnitt durch die wummernde Musik, die aus einem anderen Wagen drang. Sie legte sich die Hände über die Ohren und lief mit gesenktem Kopf weiter, so dass sie die Menschen, Autos und Schilder nicht mehr sehen und den Lärm nicht hören musste. Sie stellte sich vor, sie hätte große Kopfhörer auf, die den Lärm dämpften, als wäre sie unter Wasser.
    In St. Agnes war sie im Sommer oft weit ins Meer hinaus geschwommen und hatte von dort draußen zum Strand geschaut. Am Kiesstrand sah sie einige wenige Menschen, die vor den riesigen Klippen und dem weiten Himmel winzig klein wirkten. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass der Strand leer war. Es war einfach normal. Manchmal hörte sie auf, die Beine zu bewegen und ließ sich tiefer sinken, bis sich das Wasser über ihrem Kopf schloss. Sie hing einfach einige Sekunden so unter Wasser, ohne die Augen zu öffnen, und um sie herum war die Stille dichter als Watte. Zurück an der Oberfläche schüttelte sie sich das Wasser aus den Ohren und hörte das Kreischen der Möwen über sich oder vielleicht den Motor eines Bootes oder das leise Gedudel eines Radios irgendwo in der Ferne. Am Meer hatte sie immer nach neuen Dingen Ausschau gehalten und auf neue Geräusche gelauscht. In London wurde sie pausenlos von grellem Lärm und ständig wechselnden Bildern bedrängt: von Menschen, Häusern, Autos und Müll.
    Ob ihr das damals schon aufgefallen war, als sie noch klein war und tagein, tagaus in dieser Stadt gelebt hatte? Vermutlich nicht. Es war einfach normal für sie gewesen. Und ihre Welt hatte vor allem aus ihrem Zuhause bestanden, ihrem Zimmer, ihren Spielsachen, ihren Büchern und Stiften und Kassetten. Nach draußen war
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