Die einzige Zeugin

war nicht sicher, ob sie es noch haben wollte.
    »Kommst du?«, fragte Nathan.
    Sie ging zur Tür und band sich die Haare zum Pferdeschwanz.

31
    St. Agnes, im September
     
    Lieber Papa,
    deine Anwältin hat mich angerufen und mir gesagt, dass du den Prozess gewonnen hast. Ich freue mich sehr für dich. Du musst erleichtert sein, dass alles endlich vorbei ist.
    Ich schicke diesen Brief an Oma Jo und Opa Ray, weil ich gehört habe, dass du die nächste Zeit bei ihnen in Nordengland wohnen wirst.
    Ich bin immer noch bei Jessie in St. Agnes. Donny wohnt in London und kommt jedes zweite Wochenende hierher. Du weißt wahrscheinlich nicht, dass sie sich Anfang des Jahres getrennt haben, aber ich drücke die Daumen, dass sie sich wieder zusammenraufen.
    In zwei Wochen geht die Schule wieder los, und ich werde meinen Abschluss machen und mich im nächsten Jahr für die Uni bewerben. Ich glaube, dass ich irgendetwas mit Kunst studieren werde. Ich habe mir das Studienangebot in Exeter angeschaut und hoffe, dass ich gute Noten bekomme und dort angenommen werde.
    Es tut mir leid, dass ich nicht schon früher auf die Briefe geantwortet habe, die du mir in den letzten Wochen geschrieben hast. Es war eine merkwürdige Zeit für mich. Jessie ging es nicht gut, und ich habe mich um sie gekümmert. Das Ganze war ein riesiger Schock für sie. Natürlich ist es auch für dich schrecklich gewesen, das weiß ich. Du hast immer wieder gesagt, dass es nicht meine Schuld war, aber natürlich fühle ich mich verantwortlich, dass du zehn Jahre im Gefängnis verbracht hast. Ich weiß nicht, ob ich jemals wirklich darüber hinwegkomme. Die ganzen Jahre habe ich so starke Gefühle in mir getragen. Trauer und Wut und Hass. Es ist nicht leicht, solche Gefühle über Nacht zu ändern.
    Aber ich werde es versuchen, das verspreche ich.
    Danke für das Foto. Ich finde nicht, dass du dich sehr verändert hast. Die Haare sind etwas weniger geworden, aber das ist der einzige Unterschied.
    Ich schicke dir ein Foto von mir mit. Donny hat es letzte Woche am Strand gemacht. Es war sehr windig, deswegen fliegen meine Haare in alle Richtungen.
    Deine Anwältin hat mir gesagt, dass du dich so schnell wie möglich mit mir treffen möchtest. Ich verstehe das. Aber kannst du verstehen, dass ich etwas Zeit brauche? Können wir uns vielleicht eine Weile E-Mails schreiben? In einem deiner Briefe hast du erwähnt, dass du einen Computerkurs gemacht hast. Hast du eine E-Mail-Adresse und Internet? Dann könnten wir uns regelmäßig schreiben.
    Ich glaube, ich würde mich unwohl fühlen, wenn wir uns bei Oma und Opa zu Hause treffen. Vielleicht finden wir einen guten Treffpunkt irgendwo auf halber Strecke? Vielleicht in London? Ende Oktober sind Herbstferien, das wäre vielleicht ein guter Zeitpunkt. Ich könnte bei Donny bleiben.
    Außerdem hat die Anwältin mir erzählt, dass dein Asthma schlimmer geworden ist. Du solltest dir auf jeden Fall einen Spezialisten suchen. Es gibt jede Menge wirksame Mittel gegen Asthma!
    Meine E-Mail-Adresse steht am Ende dieser Seite. Ich freue mich auf eine Nachricht von dir.
    Bis bald,
    Deine Lauren

Über Anne Cassidy
    Anne Cassidy wurde 1952 in London geboren. Bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete, war sie Lehrerin und arbeitete einige Jahre in einer Bank. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn. Anne Cassidy hat in England mehrere sehr erfolgreiche Romane für Jugendliche veröffentlicht.

    Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de

Impressum
     
     
     
    www.fischerverlage.de
     
    Die englische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel ›The Dead House‹ by Hodder Children’s Books, London
     
    Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
    Textcopyright © 2009 Anne Cassidy
     
     
    Für die deutschsprachige Ausgabe
    © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
    Lektorat: Julia Hanauer
     
    Nach den Regeln der neuen Rechtschreibung
     
    Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
    Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
    ISBN 978-3-10-401981-9



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