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Die einzige Zeugin

Die einzige Zeugin

Titel: Die einzige Zeugin
Autoren: Anne Cassidy
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Lauren. »Wirklich.«

    Am vergangenen Wochenende waren Donny und sie auf dem Friedhof gewesen. Sie waren nebeneinander über die unebenen Wege gegangen. Ein warmer Wind blies ihnen entgegen. Donny trug noch seinen Anzug und löste die Krawatte. Nach einigen Minuten zog er auch das Jackett aus.
    Das Grab war ordentlich und gut gepflegt. Jessica hatte ein Abkommen mit der Friedhofsgärtnerei, die sich seit zehn Jahren um das Grab kümmerte. Seit der Beerdigung waren sie nicht mehr hier gewesen. Auch nach ihrem Umzug nach London waren sie nicht hergekommen. Bis jetzt.
    Donny legte einen Strauß rosa Nelken auf die flache Platte. Lauren hockte sich hin und betrachtete die beiden Bilder auf dem Grabstein. Nach der langen Zeit waren die Fotos verblasst. Ihre Mutter lächelte, Daisy sah verschlafen aus. Darunter befand sich die Inschrift:
    Hier ruhen Grace und Daisy, geliebte Mutter und geliebte Schwester.
    Die Worte schnürten ihr einen Augenblick lang die Kehle zu.
    Sie versuchte, Wut auf ihre Mutter zu empfinden, aber sie konnte nicht. Sie hatte sich alte Fotos angesehen, die Jessica ihr gegeben hatte, und das Gesicht ihrer Mutter eingehend betrachtet. Das einzige Gefühl, das sie dabei spürte, war die Sehnsucht, sie wiederzusehen, die Zeit zurückzudrehen und sich um sie zu kümmern, die Ereignisse ungeschehen zu machen, aber das war unmöglich. Sie fühlte nur Trauer.
    Der Friedhof war ruhig. In der Ferne rauschte Verkehr, aber das Geräusch war gedämpft, als wäre dieser Ort vom Rest der Stadt abgeschirmt. Die Blätter der Bäume bogen sich im Wind, die Blumen auf den Gräbern ließen ihre Blütenblätter fallen, und Schmetterlinge schwirrten um die Büsche. Nur die Grabsteine waren reglos.
    »Betest du, Lolly?«, sagte Donny.
    Lauren schüttelte den Kopf.

    »Was ist mit deinem Onkel?«, frage Julie. »Kommt er zurück nach Cornwall?«
    »Nein, er muss bis Weihnachten in London bleiben. Die Schule will, dass er seinen Jahresvertrag einhält.«
    »Und dann? Kommen sie dann wieder zusammen?«
    »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Sie werden darüber nachdenken. Ich bin nicht sicher, ob sie ihn zurückhaben will.«
    Nathan kam mit den Getränken zurück.

    Jessica war verschlossen gewesen, seit sie den Brief ihrer Schwester gelesen hatte. Nachdem sie bei der Anwältin gewesen waren, wollte sie sofort zurück nach Cornwall. Sie blieb nicht einmal über Nacht in ihrem Haus in Bethnal Green. Lauren brachte sie zum Bahnhof. Jessica versuchte, es ihr zu erklären. Es fühlt sich für mich an, als wäre es gerade erst geschehen. Als wäre meine Schwester gestorben, kurz bevor ich den Brief gelesen habe. Die Trauer ist wieder ganz frisch. Ich kann es nicht glauben. Zehn Jahre. Ich dachte, es wäre vorbei.
    Die E-Mails, die sie seitdem geschrieben hatte, waren kurz und nichtssagend. Am Telefon gab es lange Pausen. Lauren musste zurück nach St. Agnes und sich um sie kümmern.

    »Nathan, wann gehst du nach Exeter?«, fragte Julie.
    »Erst Ende September«, sagte er. »Aber ich fahre vorher für ein paar Wochen zu Lauren nach Cornwall.«
    »Schön am Strand abhängen«, sagte Julie.
    »Du könntest surfen lernen«, sagte Ryan begeistert.
    Julie legte Ryan die Arme um die Schultern und drückte ihm einen lauten Kuss auf die Wange. Sie lächelte, als hätte er einen Witz gemacht.
    »Nächsten Sommer kommen Ryan und ich euch besuchen. Was hältst du davon?«
    »Das Wasser ist ziemlich tief«, sagte Lauren. »Und gefährlich.«
    »Und voller Meerjungfrauen«, sagte Nathan.
    »Du weißt ja, was man über Meerjungfrauen sagt«, erwiderte Lauren.
    »Sterbliche sollten sich von ihnen fernhalten«, sagte Nathan. Er griff nach einer Strähne von Laurens Haar und wickelte sie sich um den Finger.
    »Sie reden in Geheimsprache«, flüsterte Julie deutlich hörbar.
    »Dann gehen wir besser«, sagte Ryan. »Lassen wir die zwei allein.«
    Auf dem Weg aus dem Museum blieb Lauren in der Eingangshalle vor dem großen Puppenhaus stehen. Amy Miles’ Haus 1890. Sie stand davor und fragte sich, ob sie irgendetwas fühlte. Sie betrachtete das Schlafzimmer mit dem Kamin, den Bildern an der Wand und dem winzigen Waschtisch mit Krug und Schüssel. Unter dem Teppich würde kein Brief versteckt liegen, keine Botschaft aus der Vergangenheit. Das ganze Haus war sauber und ordentlich und stattlich, ganz anders als ihr Puppenhaus, dass leer und zerbrochen war und dessen Einrichtung in einer Plastikbox lag. Zak hatte versprochen, es zu reparieren, aber sie
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