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Die einzige Zeugin

Die einzige Zeugin

Titel: Die einzige Zeugin
Autoren: Anne Cassidy
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Man konnte einen kleinen Freudenschrei hören und eine Frau erschien mit ausgestreckten Armen. Lauren verstand nicht, was sie sagte, aber es klang leicht und fröhlich. Dann schloss sich die Tür und schnitt die Lichtfläche ab. Die Straße war wieder dunkel.
    Lauren fühlte sich plötzlich ausgeschlossen.
    Warum war sie hierhergekommen?
    War es wegen der Aufgabe, die sie im Kunstunterricht bekommen hatte?
    Am Nachmittag hatten sie in der Schule die Kunstprüfung besprochen, die zum Abschluss des Schuljahres stattfand. Ihr Thema lautete Das spielende Kind . Sie hatten im Kurs Assoziationen zu Kindheit, Spielzeug und Kinderspielen gesammelt und kleine Skizzen angefertigt. Gegen Ende der Stunde hatten sie alle Bilder an eine große Pinnwand geheftet. Als sie fertig waren, war Lauren einen Schritt zurückgetreten und hatte sich die Wand angesehen. Zwischen Zeichnungen von Eisenbahnen, Puppen und Teddybären befand sich das Bild eines Clowns. Es zog ihren Blick an und Lauren betrachtete es aufmerksam. Es wirkte irgendwie unpassend. Als gehöre es zu einem ganz anderen Themenbereich. Ihr Blick wanderte nach unten und fiel auf ihre eigene Zeichnung. Ein Puppenhaus. Winzige Figuren in einem möblierten Zimmerchen. Daneben ein riesiges Auge, das in das Zimmer hineinsah.
    Natürlich hatte sie dabei an ihre eigene Kindheit in der Hazelwood Road denken müssen.
    Jetzt starrte sie die verschlossene Tür an und versuchte sich vorzustellen, was gerade im Inneren des Hauses vorging. Der geliebte Sohn kam aus dem Urlaub oder vielleicht sogar von einer Weltreise zurück. Seine Familie erwartete ihn. Eine Flasche Wein oder Champagner stand schon bereit. Es gab eine Feier. Die glücklich vereinte Familie. Vielleicht sah der Sohn das Haus heute zum ersten Mal. Jessica hatte gesagt, dass es erst vor einem halben Jahr in einer Auktion verkauft worden war. Vielleicht stand der Sohn in diesem Moment in der Eingangshalle und bewunderte das Gebäude. Die hohen Decken! Der Mosaikboden! Das alte Holzgeländer!
    In ihrem Kopf tauchte ein verschwommenes Bild auf. Sie war ein kleines Mädchen und hockte auf der Treppe, genau auf halber Höhe. Ihre kleinen, knochigen Knie guckten unter dem Kleid hervor, ihre Beine waren dünn wie Streichhölzer. Ihre Mutter stand in der Eingangshalle. Neben ihr waren Jessica und Donny. Auf dem Boden standen Reisetaschen mit kleinen Schildern an den Griffen, die wie Fähnchen aussahen. Ihre Mutter umarmte Jessica und klopfte Donny auf den Rücken. Bist du sicher, dass ihr das schafft? , fragte Jessica. Natürlich schaffen wir das , entgegnete Laurens Mutter.
    Ihr hättet mitkommen können. Der Flug nach Spanien dauert nur zwei Stunden! , sagte Jessica. Laurens Mutter schüttelte den Kopf und sagte, Ab mit euch! Ihr verpasst noch euren Flug . Hinter ihr hing ein kleiner Spiegel an der Wand. Lauren konnte die drei darin sehen. Einen Augenblick lang sah es aus, als stünden sechs Leute vor der Tür. Tschüs, Lolly , rief Jessica im Hinausgehen. Sie heißt Lauren! , sagte ihre Mutter und wirkte ein bisschen verärgert.
    Dann änderte sich das Bild. Lauren trug nicht mehr ihr Kleid, sie hockte im Schlafanzug auf der Treppe. Oben weinte Daisy, aber ihre Mutter kümmerte sich nicht darum. Sie stand an der Haustür und schob den Riegel vor, drehte den Schlüssel im Schloss um und befestigte die Kette. Sie murmelte etwas vor sich hin, das Lauren nicht verstehen konnte. Die ganze Zeit über wimmerte Daisy. Als ihre Mutter sich umdrehte, war ihr Gesicht ernst. Jetzt sind wir in Sicherheit , sagte sie. Was geschah dann? Lauren konnte sich nicht erinnern. Das Bild in ihrem Kopf wurde unklar und löste sich auf. Erinnerungen waren wie das Meer, sie kamen näher und zogen sich plötzlich wieder zurück. Es war unmöglich, sie festzuhalten.
    Ihr Handy klingelte. Der Ton war sanft wie Klaviermusik. Sie zog es aus der Tasche. Donny. Sie überlegte kurz, ob sie drangehen sollte, dann ließ sie es bleiben. Donny wollte vermutlich wissen, wie es Jessica ging. Ob sie aufgehört hatte zu weinen. Ob sie sich so weit beruhigt hatte, dass er zu Hause vorbeikommen und ein paar Sachen abholen konnte. Lauren seufzte und überlegte, was sie tun sollte. Es war kurz vor elf. Jessica machte sich bestimmt schon Sorgen. Vielleicht war sie aber auch so mit Donny beschäftigt, dass sie Laurens Abwesenheit gar nicht bemerkt hatte. Ihr Handy piepte. Eine Nachricht von Donny. Wenn er sie auf die eine Weise nicht erreichte, dann versuchte er es eben auf
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