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Die einzige Zeugin

Die einzige Zeugin

Titel: Die einzige Zeugin
Autoren: Anne Cassidy
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Aber sie versuchte es. Irgendwie erschien es ihr wichtig, dass diese Erinnerungen zurückkamen. Sie konzentrierte sich auf die grüne Tonne, doch ein anderes Bild schob sich davor. Es dauerte nur eine Sekunde. Ein Gesicht. Ein bemaltes Gesicht. Kein Bild, sondern ein Gesicht, das so dick mit Schminke bemalt war, dass man fast den Pinselstrich sehen konnte.
    Ein Clown.
    Die Tür zur Nummer 53 ging auf, und eine Frau kam heraus. Lauren erkannte sie sofort. Molly. Eine der Nachbarinnen. Sie trat auf die Straße, wartete ein Auto ab und ging dann hinüber. Molly hatte lange honigfarbene Haare gehabt und immer schwarze Schnürstiefel getragen. Sie hatte Zwillingstöchter, drei Jahre älter als Lauren. Sie erinnerte sich, dass die Mädchen sich aufs Haar glichen und immer miteinander getuschelt hatten.
    Molly hob etwas von der Fußmatte auf, das wie eine Werbesendung aussah, und kam dann mit einem Stapel Papier aus dem Haus. Sie ließ die Tür offen, ging zur Mülltonne und warf das Papier hinein. Ihre Haare waren nicht mehr ganz so honigfarben wie in Laurens Erinnerung. Sie trug auch keine schwarzen Stiefel, sondern Sandalen. Davon abgesehen war sie unverändert. Als wären die zehn Jahre nicht vergangen. Als wäre Lauren nur kurz mit ihrer Mutter einkaufen gegangen und eine Stunde später zurückgekommen. Ohne nachzudenken, lief sie auf die niedrige Gartenmauer zu und rief: »Molly!«
    Molly drehte sich um und entdeckte Lauren. Sie hatte schon ein Lächeln auf den Lippen, nun runzelte sie die Stirn und blickte sich um, als hätte jemand anders nach ihr gerufen.
    »Molly, ich bin’s, Lauren«, sagte sie und ging näher an den Garten heran.
    »Tut mir leid … Lauren? Ich weiß nicht …«
    »Ich habe früher zwei Häuser weiter gewohnt.«
    Mollys Augen weiteten sich vor Überraschung. Sie erkannte sie nicht. Natürlich nicht. Sie hatte sich verändert. Ihre Haare waren länger. Sie war fast erwachsen. Eine Sekunde später lächelte Molly.
    »Ich kann es nicht glauben! Die kleine Lauren?«
    Lauren nickte.
    »Du meine Güte! Wie geht es dir? Ich habe gehört, dass du in Devon wohnst.«
    »In Cornwall.«
    »Ach, richtig.«
    Einen Augenblick lang schwiegen sie unbeholfen. Molly schien etwas sagen zu wollen und tat es dann doch nicht. Lauren unterbrach die Stille.
    »Ich bin jetzt seit einer Weile wieder in London. Ich gehe in Bethnal Green zur Schule.«
    Molly nickte.
    »Ich musste einfach herkommen, ich konnte nicht widerstehen … Nur um zu sehen …« Sie zeigte auf die Nummer 49 zwei Häuser weiter.
    Molly schaute zum Haus hinüber, dann sah sie langsam wieder zu Lauren.
    »Ach Lauren, ich habe dich danach nie wieder gesehen, nach diesem Tag. Und du warst ja noch ein kleines Mädchen! Ich wollte mit dir reden, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. Deine Tante hat dich aus dem Krankenhaus geholt. Und dann habe ich gehört, dass ihr weggezogen seid.«
    »Das sind wir auch. Wir sind ans Meer gezogen«, sagte Lauren schnell und wechselte das gefährliche Thema. »Wie geht es den Zwillingen?«
    »Gut! Sie gehen jetzt zur Uni. Sie sind gerade mit dem Grundstudium fertig geworden und wollen eine Weltreise machen. Ich kriege sie kaum noch zu Gesicht.«
    Lauren nickte höflich. Sie hatte sich früher nie besonders gut mit den Zwillingen verstanden.
    »Ich vermisse sie wirklich … Und du, wie geht’s dir?«
    »Mir geht’s gut.«
    Aus dem Haus hörte man ein Klingeln.
    »Das Telefon«, sagte Molly.
    Lauren nickte und trat von einem Bein aufs andere, als hätte sie es plötzlich eilig. »Ich muss dann auch los. Grüß die Zwillinge von mir.«
    Molly machte einige Schritte auf ihr Haus zu und nickte. Sie schien gerade hineingehen zu wollen, als sie kehrtmachte und noch einmal auf Lauren zukam. Sie legte ihr eine Hand auf den Arm und war auf einmal ganz nahe.
    »Ich war im Gericht, als sie deinem Vater den Prozess gemacht haben«, sagte sie leise. »Ich war am letzten Tag da, als das Urteil verkündet wurde. Als sie sagten: ›schuldig‹, haben die Leute applaudiert. Alle auf den öffentlichen Plätzen haben Beifall geklatscht. Er hat die gerechte Strafe bekommen, Lauren. Immerhin kannst du dafür dankbar sein.«
    Molly ging zurück ins Haus und winkte ihr kurz zu, bevor sie die Tür hinter sich schloss. Lauren drehte sich zum Gehen, blieb dann aber einen Moment wie angewurzelt stehen und starrte auf den Asphalt. In ihrem Körper wirbelten die Gefühle durcheinander. Sie hörte Applaus wie bei einem Fußballspiel. Der
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