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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter
Autoren: James Morrow
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Spende.«
    »Dafür bin ich nicht zuständig.« Mrs. Kriebel wies auf eine Frau am anderen Ende der Lobby. Eckige Figur, lebhaftes Falkengesicht.
    »Sie können oben mit fünfachtundzwanzig warten.«
    Die Lobby erinnerte an den Empfangsraum eines zweitklassigen Bordells. Farngeschmückte, griechische Vasen standen auf den Ecken einer prächtigen Perserbrücke. Tapezierte Wände, in Goldrahmen die Porträts verstorbener Spender-Nobelpreisträger, die finster auf die Sterblichen herabblickten. Murray musterte die Gesichter. Na also, dachte er, im nächsten Jahrhundert haben wir Keynesianische Wirtschaftspolitik, ob wir das nun wollen oder nicht. Und eine neue Generation von Astrophysikern, die schlechte Science Fiction schreiben.
    Fünfachtundzwanzig wandte sich von einem toten Staatssekretär ab und musterte Murray mit feurigem Blick. Schwarze Rollkragenstrickweste, glattes kohlschwarzes Haar, schmierige braune Bomberjacke, Augen-Make-up vom schillernden Grün der Absecon-Bucht; ein Beatnik aus den Fünfzigern, auf wunderbare Weise in die Zeit der Samenbanken versetzt.
    »Mir ist es egal, ob’s ein Mädchen wird oder ein Junge«, sagte sie plötzlich. »Macht keinen Unterschied. Jeder glaubt, Lesben hassen Jungen. Gar nicht wahr.«
    Murray musterte die spinnenförmige Gestalt. Diese Lesbierin war ungewöhnlich schön. »War das Aussuchen schwierig? Den Vater, mein ich.«
    »Erinnern Sie mich nicht dran.« Gemeinsam schlenderten sie zum nächsten Porträt. Schwedischer Hirnchirurg. »Dachte lange an einen Maler oder Flötisten. Ich schwärme für die Kunst, verstehen Sie mich recht, aber als Wissenschaftler haben Sie ein sicheres Einkommen, also hab ich mich schließlich für einen Meeresbiologen entschieden – einen Schwarzen, sagten sie mir, einen aus ihrem Stab. Eine Zeitlang waren Mathematiker en vogue, gingen aber aus. Einen hätt es allerdings noch gegeben. Einen Steinbock. Kam nicht in Frage. Lassen Sie mich raten! – Sie sehen aus wie ein jüdischer Romancier – wenn ich das sagen darf. Ich hab schon erwogen, so jemanden zu nehmen, aber dann hab ich angefangen, das Zeug zu lesen, das sie schreiben, und es kam mir irgendwie schmutzig vor, und ich wollte nicht die Art Karma in meinem Haus. Sind sie Romancier?«
    »Ich hab tatsächlich an einem Buch gearbeitet. Non fiction allerdings.«
    »Wie heißt es?«
    »›Hermeneutik des Gewöhnlichen‹.«
    Als er vierzig wurde, hatte Murray beschlossen, dunkle und tiefschürfende Bücher nicht nur zu sammeln, sondern selber eins zu schreiben. Nach sechs Monaten dreihundert Seiten Rohmanuskript. Und ein starker Titel.
    »Herrn… äh… des Gewöhnlichen?«
    »Hermeneutik. Auslegung. Interpretation.«
    Durch die Arbeit bei Atlantic City Photorama, wo er belichtete Filme entgegennahm und Abzüge und Dias zurückgab, hatte Murray entdeckt, daß Schnappschüsse einzigartigen Zugang zur menschlichen Psyche boten. Ein Anwalt z. B. fotografiert seine Teenager-Tochter: warum der provokativ kleine Ausschnitt? Ein Börsenmakler fotografiert sein Haus: warum steht er so weit weg, woher kommt dieses Verlangen nach Kontext? Schnappschüsse waren eine unentschlüsselte Sprache, und Murray sah seine Bestimmung darin, den Code zu knacken; das Buch würde der Rosetta-Stein der Amateur-Fotografie sein, ein Talmud der Instamatic.
    »Es handelt von meinen Erfahrungen mit Photorama-Kunden.«
    »O yeah, den Laden kenn ich! Sagen Sie, stimmt es, daß sich die Leute beim Bumsen fotografieren?«
    »Nun, ein paar von unseren Kunden tun das, ja.«
    »Hab ich mir doch gedacht!«
    »Da gibt’s noch komischere Sachen. Da haben wir z. B. einen Grundstücksmakler, der nichts anderes aufnimmt als… nun… zerquetschte Tiere.«
    »Ungeheuerlich!«
    »Eichhörnchen, Stinktiere, Murmeltiere, Katzen. Ein Film nach dem andern.«
    »Und Sie erforschen wirklich die menschliche Seele aus dem, was jeder zum Photorama bringt? Hätt ich nie gedacht. Stark.«
    Murray lächelte. Zumindest eine Leserin würde sein Buch haben. »Ich betreibe auch den Leuchtturm auf Brigantine Point.«
    »Leuchtturm? Wirklich ein Leuchtturm?«
    »O ja. Allerdings leuchten wir nicht mehr viel.«
    »Könnt ich das dem Baby einmal zeigen? Hört sich lehrreich an.«
    »Sicher. Ich bin Murray Katz.« Er reichte ihr die Hand.
    »Georgina Sparks.« Kräftiger Händedruck.
    »Sagen Sie ehrlich, komm ich Ihnen verrückt vor? Jeder sagt, es ist verrückt, ein Kind ganz allein aufzuziehen, besonders, wenn Sie schwul sind. Ich lebte mit
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