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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter
Autoren: James Morrow
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anzuschließen. Normale Außenluft versorgt das Blut mit Sauerstoff. Sie stellen das Ding einfach in einen warmen, gutgelüfteten Raum und passen auf, daß dieses Einlaßventil hier immer offen ist.«
    »Gut. Eine Menge Luft rein.«
    »Die Flüssigkeiten sollte man alle dreißig Tage auswechseln. In die eine Flasche kommt gewöhnliche Babynahrung, aber für die andere brauchen Sie richtiges Blut.«
    »Blut? Wo soll ich denn das herkriegen?«
    »Na, woher wohl?« Marcus Bass knuffte Murray leicht in den Arm. »Vom Vater natürlich. Treiben Sie sich an Ihrer lokalen Feuerwache rum und schließen Freundschaft mit den Rettungsleuten, okay? Wenn’s soweit ist, schieben Sie denen einen Zwanziger rüber – die werden Ihnen dafür liebend gern die Transfusionsnadel reinschieben.«
    »Feuerwache. Gut. Transfusionsnadel.«
    »Die dritte Flasche nimmt die Abfallprodukte auf. Sollte sauber ausgewaschen werden, wenn sie voll ist. Also Babys erste schmutzige Windel, eine Art…«
    »Babynahrung – krieg ich die in der Klinik?«
    »Klinik? Nein, Mann, im Supermarkt! Ich nehm Similac.«
    Marcus Bass klopfte mit dem Fingerknöchel an den gläsernen Uterus. »Das Mittel mit Wasser verdünnen.«
    Murray begleitete Marcus Bass auf den Korridor.
    »Similac – mit wieviel Wasser?«
    »Steht alles auf der Dose.«
    »Das gibt’s in Dosen?« Wie praktisch.
    »M-hm. Ist doch ein Mädchen?«
    »Haben sie gesagt, ja.«
    »Gratuliere! Ich glaube, Mädchen sind auch das Größte auf der Welt.«
    Dr. Bass lächelte. Einen flüchtigen Augenblick lang sah Murray einen Zweijährigen auf Papa, seinem Pferd, reiten.
     
    Reverend Billy Milk, Hauptpastor der First Ocean City Church of Saint John’s Vision, langte in seinen Schaffellmantel und streichelte den kühlen Stahl des Sprengzünders. Feucht und kalt war Gottes Zorn, wie eine Eiswürfelschale frisch aus dem Kühlschrank. Die Farben der Transparente auf dem Institutsgelände verblaßten in der zunehmenden Dämmerung; statt wütendem Geschrei war nur noch ein unzufriedenes Stöhnen zu hören. Es nieselte. Billy schaute auf die Uhr. Fünf. Die Demonstrationserlaubnis lief ab. Er nickte seinem Akolythen zu, dem Versicherungszauberer Wayne Ackermann. Der gab den anderen ein Zeichen. Die Schar der Rechtgläubigen zerfiel in hundert einzelne Vorstädter, die sich im Dezembernebel verliefen.
    Seit er sich selbst das rechte Auge ausgestochen hatte, litt Billy Milk unter einer Bürde – so etwas wie das Gegenstück zu einem Phantomglied: ein Phantomauge.
    Amputierte spüren Jucken in den fehlenden Beinen; Billy Milk hatte Visionen in seinem fehlenden Auge. Vor genau sechs Monaten hatte ihm dieses Phantomauge Gottes Willen bezüglich des Preservations-Institutes offenbart: Flammenzungen und wogenden Qualm. Zerbrochene Dachsparren, zertrümmerte Ziegel. Kochender Samen lief in Strömen aus der zerstörten Anstalt heraus.
    Billys Herde trottete an ihrem Führer vorüber. Die Leute erkannten ihn, nickten ihm entmutigt zu. Sie lächelten. Erschöpft. Gegen den Satan zu sein, war ein einsames Geschäft. Den moralischen Zustand der Dinge zu sehen, zu sagen, das ist gut und das ist böse, war in diesen Vereinigten Staaten von Amerika, dem Land des ultimativen Relativismus, seit langem aus der Mode. Geduld, Brüder und Schwestern. Habt Geduld. Denn morgen würde Billys Gemeinde in der Atlantic City Press endlich ein paar gute Neuigkeiten lesen können. Es war eine Tortur gewesen, die Bombe zu plazieren. Aber seit wann war denn die Erfüllung von Gottes Willen etwas für die Furchtsamen? Billy hatte nicht gezögert, dem Mann an der Rezeption zu sagen, er sei ein Spender – in der Seele wohnt die Sünde, nicht in der Zunge! –, aber dann kam dieser schreckliche Raum mit den nackten Frauen und obszönen Briefen. Die Bombe paßte unter das mittlere Couchpolster, genau unter Miss April 1970. Was war das für eine Gesellschaft, wo man sich Farbfotos der intimsten Körperteile einer Frau leichter beschaffen konnte als eine Bibel? Eine kranke Gesellschaft jedenfalls. Einzig die Parousia konnte diese Gesellschaft heilen – die Wiederkehr des Herrn und sein tausendjähriger Aufenthalt im Neuen Jerusalem.
    Der Regen trommelte gegen die Augenklappe. Billy schritt den Kai hinab und spähte prüfend, gottgleich, in die kleinen Welten seiner Herde. Seltsame Sache, diese Kabinenboote – ideale Privatspäre auf See, aber hier, wo sie das Heck dem Hafen zuwandten, offenbarten sie zahllose Intimitäten. Eine Packung
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