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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter
Autoren: James Morrow
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nur logisch, den Tod für weniger dauerhaft zu halten, als man dies z. B. aus einer zufällig in einem Newarker Gully gefundenen stocksteifen Katze hätte schließen sollen.
    »Paps, haben wir einen Himmel?« fragte er an dem Tag, als er die Katze fand. Sein Vater blickte von seinem Maimonides auf. »Die Vorstellung eines Juden vom Himmel? – Eine endlose Folge langer Winternächte, da wir den gerechten Lohn erhalten, nämlich in einem warmen Raum zu sitzen und alle Bücher zu lesen, die jemals geschrieben wurden.« Phil Katz war ein lebhafter, verrunzelter Mann mit kaputter Aorta; einen Monat später würde sein Herz sich festfressen wie ein überlasteter Automotor.
    »Nicht nur die berühmten Bücher, nein, jedes Buch, auch das Zeug, das sonst niemand je zu lesen kriegt. In Vergessenheit geratene Theaterstücke, Romane von Leuten, von denen du noch nie gehört hast. Ich bezweifle jedoch stark, daß so ein Ort existiert.«
    Nun, Jahrzehnte später, war Vater längst tot und Atlantic City wieder Mittelpunkt von Murrays Leben. Er begann seine unmittelbare Umgebung zum jüdischen Himmel umzuformen. Bald füllte der ganze ruhmreiche Umfang des Deweyschen Dezimalsystems den Leuchtturm. Die Bücher zogen sich in Spiralen wie DNS-Fäden die Wände hinauf. Sie gaben Murrays Säugergroßhirn geistige Nahrung, den reptilischen Hirnbereichen phantastische Düfte: es roch nach Bücherleim, plebejisch frisch nach Taschenbuch-Meterware, darüber der scharfe Mief einer Enzyklopädie aus einem Billigladen. Wenn es zu voll wurde, baute Murray einfach an, eine Art rundes Cottage um den Leuchtturm – wie die dreihundert zornig lärmenden, gutgekleideten Christen, die um das Preservations-Institut herumstanden.
    Dreihundert, ohne Übertreibung; sie schwenkten Plakate und schrien im Chor: »Sünde!« Und auf der Seeseite lag eine Flotte von Segelbooten vor Anker, Transparente flatterten von den Masten: DIE SCHÖPFUNG IST HEILIG – SATAN WAR EIN RETORTENBABY -GUTE ELTERN SIND VERHEIRATET. Murray überquerte den sandigen Rasen in jener vorsichtig harmlosen Gangart, die jeder besonnene Jude unter solchen Umständen annehmen sollte. UND DER HERR SCHLUG ONAN NIEDER stand auf dem Plakat eines hageren älteren Gentleman mit der starren Haltung einer Gottesanbeterin. GOTT LIEBT DIE LESBEN, GOTT HASST LESBISCHE LIEBE verkündete ein großohriger kafkaesker Jüngling. Murray ging auf einen Wall sägebockartiger Barrikaden zu. Dahinter stand ein Dutzend Sicherheitsleute, die sich ängstlich an ihren halbautomatischen Waffen festhielten. Die Demonstranten grapschten nach Murrays Mantel. Eine blasse, ganz ansehnliche Frau verlangte:
    »Bitte, behalten Sie doch Ihren Samen!« KÜNSTLICHE BEFRUCHTUNG = EWIGE VERDAMMNIS stand auf ihrem Plakat. Als Murray durch die Barrikaden ging, packte ihn jemand an der Schulter. Er drehte sich um. Augenklappe über dem rechten Auge. Gott hatte ihn für die heilige Schlacht mit mächtigen Armen, einem Körper wie ein Stonehenge-Megalith und fanatischem Leuchten im gesunden Auge ausgestattet. »Na, was wird dein vergossener Same dir einbringen, Bruder? Dreißig Dollar? Du bist unterbezahlt. Judas kriegte Silber! Widerstehe! Widerstehe!«
    »Ganz nüchtern betrachtet, war meine letzte Spende unbrauchbar«, sagte Murray. »Ich glaub, ich bin raus aus dem Geschäft.«
    »Sag jenen Leuten dort, es ist schlecht – es ist Sünde! Wirst du das tun? Wir verdammen sie nicht. Wir alle sind Sünder. Ich bin ein Sünder.« Mit einer plötzlichen Bewegung klappte der Demonstrant den Lederdeckel hoch. »Denn wenn ein Mann sein eigenes Auge ausreißt, so ist es Sünde.«
    Murray schauderte. Was hatte er erwartet, ein Glasauge, ein verschlossenes Lid? Sicher nicht dieses dunkle, gezackte Loch. So stellte er sich die Krankheit vor, die seine Keimdrüsen zerfraß. »Sünde!« Er riß sich los. »Ich werd’s ihnen sagen.«
    »Gott schütze dich, Bruder«, murmelte der Mann mit dem Loch im Kopf. Mit ahnungsvollem Schauern betrat Murray das Institut, überquerte den glänzenden Marmorboden, vorbei an einer großen Uhr mit harpunenförmigen Zeigern und Kugellampen auf schmiedeeisernen Ständern, bis er endlich Mrs. Kriebels Schreibtisch erreichte.
    »Ich melde Sie Dr. Frostig«, sagte sie barsch und ordnete die Gläser zu einem ordentlichen Muster. Eine Frau mit Stil; trug Kleider und Kosmetika, deren Markennamen Murray nicht einmal kannte.
    »Haben Sie schon raus, was mit mir nicht stimmt?«
    »Wie?«
    »Mit meiner
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