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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter
Autoren: James Morrow
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Aber das macht mir den Eindruck einer hoffnungslos romantischen und anthropomorphen Vorstellung von den Prioritäten eines Schwamms. Andere würden das Ganze eine gigantische biochemische Koinzidenz nennen: unter optimalen Bedingungen verwandeln Schwämme Schierlingssaft in Tetradotoxin. Ich bin nicht überzeugt. Wieder andere würden behaupten, Gott selbst sei in mich gefahren und habe die geeignete Alchemie durchgeführt. Klingt plausibel, aber eher langweilig. Dann gibt’s noch eine letzte Möglichkeit, der ich zuneige.
    - Ja?
    - Die letzte Möglichkeit ist einfach, daß ich Gott bin.
    - Du bist Gott?
    - Nur eine Theorie natürlich, aber unwiderlegbare Daten sprechen dafür. Ich meine, schau mich einmal an. Gesichtslos, gestaltlos, löchrig, undifferenziert, jüdisch und unergründlich… und Hermaphrodit noch dazu. Vor Jahren hab ich dir erzählt, daß Schwämme nicht getötet werden können, weil jeder Teil wieder zum ganzen Schwamm wird. Das heißt, ich bin sowohl unsterblich als auch unendlich.
    - Du bist Gott? Du selbst? Du?
    - Die Fakten sprechen dafür.
    - Gott ist ein Schwamm? Ein Schwamm? Ein großer Trost ist das nicht.
    - Zugegeben.
    - Schwämme können uns nicht helfen.
    - Und Gott auch nicht, soweit ich das sehe. – Ich wäre selber froh, wenn irgend etwas entscheidend dagegen spräche.
    - Deprimierend ist das!
    - Schau es einmal so herum an: Gott ist nicht so sehr ein Schwamm, als vielmehr das Verhalten eines Schwamms, wenn er sich einer… – oh, ich weiß nicht – sagen wir, einer Frau mittleren Alters gegenübersieht, einer Frau mit schlechtem Haarschnitt, die erst kürzlich gekreuzigt wurde. – Dreh dich um.
    Du drehst dich um. Der Schwamm schiebt sich über deinen Brustkorb zum linken Bein hinunter, wo er anfängt, deine gemarterten Füße zu desinfizieren.
    - Meinst du damit, Gott ist eher ein Zeitwort als ein Hauptwort? fragst du Amanda.
    - Was ich sage, ist dies: Gott ist ein Schwamm, indem sie nämlich tut, was ein Schwamm tun kann. Verstehst du?
    - Glaub schon.
    - Und jetzt lauf nach Amerika, mein Kind, bevor du Schwierigkeiten kriegst.
    Du setzt dich auf. Bist ganz ruhig. Es ist nur ein vorläufiges Glücksgefühl, natürlich, aber du entscheidest dich für eine fröhlichere Formulierung: Es ist ein Glücksgefühl – nur vorläufig.
    Amanda ist in Zwielicht gehüllt. Keine besonders eindrucksvolle Mutter, aber augenscheinlich die einzige, die du hast. Du spürst, daß sie dir deine Fehler als Tochter vergeben hat, und so beschließt du, ihr auch ihre Fehler als Mutter zu vergeben.
    - Sholem aleichem, sagst du.
    - Aleichem sholem, sagt sie.
    Sie schlüpft von deinen Füßen, wirft sich in die Brandung und ist weg.
    Dir schwirrt der Kopf, die Wunden pochen; du kletterst den Kai hoch und wendest dich nach Westen. Du mußt unheimlich auffallen: Eine Frau, die mit sieben Löchern im Körper splitternackt den Harbor Beach Boulevard runterhumpelt, kann nicht lange unbemerkt bleiben. »Schick mir ein paar Kleider«, bittest du Amanda. »Irgendwas Normales, was mich nicht gleich als Sheila kenntlich macht.«
    Keine Kleider erscheinen. Das überrascht dich nicht. Deine Mutter ist ein Schwamm. Und wo genau hat der dich verlassen? Wo du immer gewesen bist, denkst du.
    Der Regen läßt allmählich nach. Lauf heim, hat Amanda gesagt. Kannst du natürlich nicht, mit diesen in Stücke gehackten Füßen – aber du stiehlst einen scheußlich roten Hosenanzug von einer Wäscheleine in Pleasantville und ein Fahrrad bei der Pomona Junior High School, und so bringst du es fertig, in vier Tagen nach Camden zu kommen.
    Lebend. Erstaunlich.
    Langsam, wie ein Foto sich im Entwickler materialisiert, taucht die Benjamin Franklin Bridge aus der Dämmerung auf. Die Kabel glänzen wie poliert in der aufgehenden Sonne, die Schotterwege sind noch im Nebel verborgen. Dein einziger Gegner ist ein einsamer, übergewichtiger Polizist, der im Wächterhäuschen vor sich hindöst. Du läßt das Rad an den pfützenbedeckten Stufen des Port Authority Buildings stehen und humpelst auf den nördlichen Gehweg.
    Die Straßenbeleuchtung ist noch an, hoch oben auf den Masten leuchten die Lampenkugeln im Nebel. Das Land zieht langsam vorüber, ein schäbiges, müllübersätes Viertel, eng gedrängte Ziegelmauern, und jetzt kommt der verschmutzte, klumpendurchsetzte Fluß in Sicht. Ein Patrouillenboot der Jersey-Inquisition und der Kutter der amerikanischen Küstenwache fahren in eisigem Schweigen aneinander vorbei.
    Zehn Schritte
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