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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter
Autoren: James Morrow
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Taschenlampe durch den Regen zum ersten Schaustück auf der Straßenseite eilte, einem Haufen Knochen, mit Draht wie ein Viehzaun zusammengebunden. Er inspizierte sorgfältig das Gerippe, als überlege er, ob er es entfernen solle.
    »Nimm mich, Babylon!«
    »Ich bin nicht Babylon, verrückter Kerl!«
    »Ah… du bist eine von der Junta!« Milk schrie. Fahles Licht fiel auf sein Gesicht. Phoebe drehte sich um. Der Fahrer betrachtete kurz die beiden lebenden Leichen, die auf der Ladefläche miteinander rauften. »Colonel Ackerman hat dich geschickt!« Milk verkrallte sich in Phoebes Parka.
    Der Fahrer ließ die Taschenlampe fallen und stürzte wie ein erschrecktes Reh in die stürmische Dunkelheit davon.
    »Du hast meine beste Freundin umgebracht!« Phoebe sägte mit dem Smith & Wesson vor und zurück. Warum nur konnte sie nicht abdrücken? Warum dieses Zögern? »Meine Mutter verbrannt! Meinen Vater in in Stücke geschnitten!« Der Lauf stieß auf Knochen.
    »In Stücke?« Milk grinste. »Ich kann mich erinnern. Dein Vater starb als Geretteter.«
    »Du…« Sie lächelte. Hörte mit dem Sägen auf. Zog den Revolver zurück. Das Evangelium nach Phoebe – sie war wirklich dabei, es zu schreiben, wirklich und wahrhaftig. »Hau ab!« murmelte sie und verstaute die Smith & Wesson in ihrem Parka. Das Evangelium nach Phoebe – da wollte sie keinen billigen Mord auf Seite 301, nein, sie hatte mehr Klasse, mehr Stil. »Raus!«
    Wegen der Möwen, hätte Katz gesagt.
    Wie eine enttäuschte Geliebte, die ihren Partner aus dem Bett jagt, hebelte sie Milk über die Seite und stieß ihn in den nassen, schlammigen Graben. Dreck flog ihr ins Gesicht.
    Ein Blitz flammte auf. Der Moosbeersumpf dehnte sich nach allen Seiten, nur unterbrochen von dem Highway und einem Haufen schwarzer Knochen. Ein zweiter Blitz: Milk stolpert über seine Füße. Ein dritter Blitz: Milk hoppelt durch den Sumpf wie eine riesige schwarze Grille. Recht so, du Bastard, tust gut daran, zu rennen. Renn dir den Arsch ab. Auf meine Barmherzigkeit ist nicht viel Verlaß! Der Geruch, dieser durchdringende, heillose Gestank. Sie sprang hinunter, sprach mit sich selbst. Nur der Regen und die erschlagenen Sünder konnten sie hören. »Katz, Katz« – sie hob den Revolver zum Himmel –, »du hast deine Krallen in mich geschlagen, nicht wahr?« Sie schaute auf Milks flüchtende Gestalt. »Ich, ich hätte den Bastard nämlich erschossen. O ja…«
    Krach, ein langer, sich gabelnder Lichtfaden zerschnitt den Himmel.
    Erleuchtete den Sumpf. Und traf Milk.
    Phoebe blinzelte. Wirklich: ein laufender Mann, ein heller Zack, und – aus.
    Ein Blitz. Jesus. War das nicht ein bißchen viel? Hatte aber sicher seinen Zweck erfüllt; sauberer Volltreffer.
    Sie spürte, wie sich Reue über den Himmel ausbreitete. Erstens: Er hat nicht gewußt, wer ihn umbringt. Zweitens: Er hat nicht gewußt, warum.
    Aber Phoebe wußte es. Das war kein Scherz der Natur, das war schlicht und einfach eine Hinrichtung. Katz hätte es zweifellos Koinzidenz genannt. »Ein Universum ohne Koinzidenz wäre ein außerordentlich seltsamer Ort«, hatte sie in einer ihrer blöden Kolumnen geschrieben. Die dickköpfige Julie Katz, in deren Weltbild kein Platz war für Gastkommentare Gottes.
    Phoebe lief. Der Regen lief ihr übers Gesicht. Noch ehe sie Milks Leiche erreicht hatte, wußte sie schon, wie der Schlag ihn verändert hatte. Gottes Strafaktionen passen immer: Auge um Auge, Zweiteilung um Zweiteilung. Sie bestaunte das Wunder. In der Tat zwei Hälften, nur nicht in Zwerchfellhöhe wie bei ihrem Vater, sondern der Länge nach.
    Ein Blitz. Perfekt.
    Sie stakste zum nächsten Baum und brach zusammen. Schlang ihren Körper um den Stamm, rollte sich ein wie in ihrer Mutter Schoß, und bald versetzte sie der trommelnde Regen in einen tiefen und traumlosen Schlaf.
     
    In der Aprilmorgensonne stiegen Dampfschwaden aus dem Moosbeersumpf. Phoebe kam allmählich auf die Füße, die Jeans taudurchnäßt, die Brüste schwer von Milch. Sie schob die klammen Hände in den Parka, zog ihren Kirchenpassierschein heraus und mußte feststellen, daß er schon vor zwölf Stunden abgelaufen war. Mit welchen schlauen Tricks, tollen Streichen und Lügen konnte sie jetzt Amerika erreichen? Kein Grund zur Aufregung. Wenn sie erst dort war, würde sie jene Brücke überqueren – Brücke im Wortsinn, dachte sie mit leichtem Lächeln, die Benjamin Franklin Bridge. Das Wichtigste war jetzt, loszumarschieren. Wenn Irene dem
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