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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter
Autoren: James Morrow
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Sterblichen aus Stahl sind; daß sie nicht biegen noch brechen?
    Der völlig durchnäßte William Penn High School-Pullover hing wie Papiermache an ihm herunter. Er nahm den Sack auf die Schultern, trug ihn zum Ende des Kais und setzte ihn auf den Felsen ab. Der Gummi verströmte den penetranten Geruch einer Gasmaske. Er ging in die Knie und zog den Reißverschluß auf.
    Natürlich bestritt er das ganze Zeug mit ewigem Leben usw. Und natürlich wünschte er sich, irgend jemand möge ihr die ewige Glückseligkeit gewähren. Er dachte an das Buch, das seine Vorzugsstudenten gerade lasen, Thomas Wolfes ›Schau heimwärts, Engel‹ – wie der ungläubige Eugene Gant nach dem Göttlichen sucht. »Wer immer du bist, sei heute nacht gut zu Ben, zeig ihm den Weg«, betet Eugene bei seinem sterbenden Bruder. »Wer immer du bist, sei heute nacht gut zu Ben…«
    Ihr Gesicht kam zum Vorschein. Er stöhnte auf. Was hatte er erwartet, Schneewittchen auf der Bahre? Sicher nicht diese aufgerissenen, leer starrenden Augen, sicher nicht dieses Ding. Die plumpe Trägheit des Leichnams war entnervend. Was genau war das? Wenn ein Auto kaputtgeht, bleibt es immer noch ein Auto. Aber mit dem Tod eines Menschen trat etwas offensichtlich Neues ins Sein, ersetzte Geist und Körper durch einen leeren und minderwertigem Klumpen aus reinem Nichts.
    Er zog den Verschluß weiter auf. Regentropfen fielen auf sie, sammelten sich in ihren Augen, rollten in die Vertiefung zwischen den leicht asymmetrischen Brüsten. Er beugte sich über sie, schützte sie vor dem Unwetter, trocknete ihr Gesicht mit dem Hemdsärmel. Falten und Tränensäcke, sicher, aber da waren immer noch diese vollen Lippen, die hübsche Stupsnase. Er hatte sie vorher nie richtig angeschaut, nicht auf diese Weise. Er fragte sich, mit welchem Schicksalsschlag wohl diese oder jene Falte in Verbindung stand – da hatte der Tod ihres Vaters seine Spur hinterlassen, und da Phoebes Quartalsuff; und da schließlich ihre Unfruchtbarkeit.
    Versprochen war versprochen. Er küßte den Leichnam auf die Lippen. Nichts. Kein Ekel. Keine Faszination. Nicht der geringste sexuelle Kitzel. Es war ein Leichnam. Es war ein Nichts.
    Er zog den Reißverschluß zu, stieß den Sack sanft an, ließ ihn über den glitschigen Algenbewuchs hinunterrutschen. Der Sack schlug auf dem Wasser auf. »Wer immer du bist«, flüsterte er, »sei heute nacht gut zu Julie, zeig ihr den Weg. Wer immer du bist«, sagte er noch einmal, als seine Frau in der Absecon-Bucht versank, »sei heute nacht gut zu Julie…«
     
    Phoebe lief an der Tomas de Torquemada Memorial-Arena vorbei. Abprallende Regentropfen trommelten auf den gelben Parka. Die Menschenmenge verlief sich. Regenschirme wie schwarze Blumen, die Zirkuswimpel schlaff vor Nässe. Die Leute unterschieden sich kaum von Basketball-Fans aus Philadelphia, die eben das ›Spectrum‹ verließen. Aus dem Lächeln auf ihren Gesichtern hätte man nicht sicher sagen können, ob sie grade zugeschaut hatten, wie die 76er mit einem Dreipunktevorsprung gewannen, oder ob sie hundert Sünder hatten brennen sehen.
    Jenseits der Straße erhob sich der Heilige Palast in den stürmischen Himmel, die goldenen Pilaster schnitten aufwärts durch ein Dutzend Balkonreihen. Phoebe griff in ihren Parka, berührte das kalte Metall. Ihr Plan war vielleicht unüberlegt und vage, aber die Smith & Wesson war jedenfalls geladen.
    Sie wartete die Nacht ab. Im Schutze der regnerischen Dunkelheit schwang sie sich dann über den schmiedeeisernen Zaun. Im Hinterhof lockte eine Sykamore. Lautlos kletterte sie hinauf; im Hinterkopf immer die Wachen und ihre Uzis – schwarz und furchtbar wie die Gebeine ihrer Mutter. Ihre Geschichte holte sie ein. Vater entzweigeschnitten. Die Mutter lebendig verbrannt. Beste Freundin gekreuzigt. Die Äste dick und naß wie Muränen; trugen sie aber bis auf die Höhe des zweiten Stockwerks. Wie leicht das alles ging: die Scheibe mit Mutters altem Schweizer Armeemesser lösen, das Fenster aufklinken – es war ja so einfach; die Rache der Geschichte, und sie das Werkzeug dazu.
    Auch ihr Auftrag an Irene war ganz einfach. Erstens: Gib ihm täglich zwanzig bis dreißig Unzen von dem Nährmittel. Zweitens: Zum Mittagsschläfchen legst du ihn in die Wiege. Drittens: Wenn seine Mutter ermordet wird, heiratest du wieder. Jedes Kind braucht mindestens zwei Eltern, wenn möglich, noch mehr.
    Schweigend wanderte sie durch die vergoldeten Korridore – Teppiche so warm und weich
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