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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter
Autoren: James Morrow
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dann und trank die restliche Milch aus.
    Phoebe strahlte wie der Leuchtturm auf Angel’s Eye in seinen besten Tagen, packte ihre zusammengewürfelten Habseligkeiten ein – Apfel, Regenschirm, Smith & Wesson, Erdnußbutterglas – und stolzierte glücklich durch die Scheune. Sie lachte in sich hinein. Katz hatte den Teufel schließlich doch geschlagen! Sie hatte es wirklich fertiggebracht!
    Mit einer raschen, krampfhaften Bewegung packte Wyvern ein Huhn am Genick. »Das ist nicht das Ende für mich, weißt du. Ich hab eine Menge Angebote, ich geh zum Zirkus.« Der Vogel krümmte sich schrill gackernd in seiner Hand, strampelte wie ein Gefangener am Galgen. »Nicht Milks Zirkus. Der richtige. Sie stellen mich als geek an. Darin bin ich gut.« Er steckte den Hühnerkopf in den Mund und biß der Henne den Kopf ab.
    »Ich glaube, da hast du deine Bestimmung gefunden«, sagte Phoebe.
    Langsam zerkaute der Teufel den Hühnerkopf mit seinen kakerlakenbraunen Zähnen. »Nicht schlecht für einen Vegetarier, eh?« Er spuckte ein Mischung von Muttermilch und Hühnerblut aus.
    Phoebe öffnete das Scheunentor. Ganz New Jersey troff vor Nässe. Im silbrigen Mondlicht sahen die Dreschmaschinen stromlinienförmig modern aus.
    »He – weißt du, was du kriegst, wenn du ein lebendes Huhn frißt?« rief ihr Wyvern nach.
    »Was denn?« Sie schulterte den Rucksack und trat auf den matschigen Hof.
    »Federn in der Scheiße!« rief der geschlagene Teufel.
     
    Zu leben ist schwerer als tot zu sein. Das Wasser sickert unaufhaltsam in deinen Sarg, brennt in Augen und Nebenhöhlen. Die Speiseröhre verdreht sich wie ein Henkersstrick. Dein Herz schlägt panisch.
    Deine Finger kratzen an der Gummihaut. Warum diese zusätzliche Folter? fragst du dich. Hört der Zirkus niemals auf? Schläft Wyvern nie?
    Du bekommst Metall zu fassen. Der Reißverschluß bewegt sich – bewegt sich, o Gott, ja, er bewegt sich!
    Ein Fuß weit, zwei.
    Du schlüpfst wie eine Motte aus ihrem Kokon und kämpfst dich mit schreienden Lungen nach oben, reißt dich selbst vom Tode los – vom Tod, von der Hölle, vom Schlaf des Vergessens –, mit einem einzigen leidenschaftlichen Atemzug. Das Wasser ist kalt und stürmisch bewegt. Die Absecon-Bucht? Da ist die Landzunge, da ist Angel’s Eye, das sich in der Ferne wie ein Kolben hebt und senkt. Du lebst. Unglaublich. Ein feuriger Schleier über dem Himmel, aber niemand brennt Casinos nieder, es ist nur der Sonnenuntergang. Luft schnappend und hustend schwimmst du zum Ufer und schleppst dich ins seichte Wasser, legst dich auf die glänzenden Felsen, spürst den wundervoll schleimigen Bewuchs am nackten Körper. Der Fluttümpel wimmelt von Leben. Garnelen, Muscheln, Seenadeln, Borstenwürmer. Vor deiner Nase paaren sich zwei Winkerkrabben.
    Du bist am Leben. Es ist unglaublich.
    Regen rinnt dir den Rücken hinunter – und noch etwas, ein warmes, weiches, gummiartiges Etwas massiert dir Nacken und Schultern. Es kriecht am Armstumpf hinunter und badet die drei Wunden in heilsamem Salzwasser.
    Ein Schwamm. Ein bekannter Schwamm. Sie? Ist das wirklich möglich…?
    - Amanda? fragst du.
    - Richtig, sagt der Schwamm.
    Amanda! Amanda aus dem Zoo deiner Kuscheltiere! Sie kriecht auf deinen linken Arm und fängt an, das Loch im Handgelenk zu säubern.
    - Das ist erstaunlich, sagst du. Ich hätte nie geglaubt, dich je wiederzusehen. Sie haben mich gekreuzigt.
    - Ich weiß, Julie. Ich hab’s gesehen.
    - Du hast das im Zirkus gesehen?
    - Ich kann dir keinen Vorwurf machen, daß du mich nicht wiedererkannt hast. Aber ich war da, triefend von Schierlingssaft.
    - Du? Ich hab von dir getrunken?
    - Das war ich.
    - Gift?
    - Als es deine Lippen berührte, hab ich’s transformiert: in Tetradotoxin.
    - In was?
    - Tetradotoxin. Qualitätsprodukt, 98%ige Reinheit. Ein bemerkenswertes Mittel. Ruft alle Symptome des Todes hervor, aber nur eine Zeitlang. Es hat dir das Leben gerettet, Julie.
    - Du hast mir das Leben gerettet.
    - Sicher.
    Gerettet von einem Schwamm! Erfüllt von Liebe und überfließender Dankbarkeit küßt du Amanda auf das, was du für ihre Augen hältst.
    - Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin!
    - Aber, für was denn?!
    - Ich bin so verwirrt, läßt du den Schwamm wissen.
    Tausendfaches Lächeln kräuselt die poröse Oberfläche.
    - Manche würden sagen, das ganze Wunder sei allein mein Werk, meint Amanda. Du warst immer freundlich zu mir, da hab ich mich revanchiert: Androklus und der Löwe, nicht wahr?
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