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Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten

Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten

Titel: Die Eifel sehen und sterben - 23 kriminell kurze Geschichten
Autoren: Carola Clasen
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bei einem Anlass wie diesem kommt sie zu spät. Das macht mich traurig.
    Sie wird schon kommen, sage ich mir, nicht umdrehen, geh deines Weges, geh ins Wasser, geh!
    Und es nimmt Besitz von mir, Welle für Welle, von meinem Unterkörper und meinem Bauch, es rinnt mir durch den Hosenbund zwischen die Beine, breitet sich auf meinen Hüften und meinem Hintern aus, es gluckert und füllt meine Hose, es tränkt mein Hemd. Ich hebe den linken Arm, damit meiner Uhr nichts geschieht. Sinke ich oder steigt das Wasser? Kalt erwischt mich eine Welle in der Achselhöhle, die ersten Spritzer laufen über meinen Hals. Ein torfig, modriger Geruch steigt auf. Ich bin fast auf Augenhöhe mit der Wasseroberfläche, sie scheint unendlich, das Ufer Kilometer entfernt.
    Mit jeder Welle schwappt eine neue Frage auf mich zu: Und wenn sie nicht kommt? Was mache ich dann? Das ist in meinem Plan nicht vorgesehen. Sie muss kommen.
    Aber wenn sie es nicht tut?
    Wenn sie es nicht kann, weil sie im Stau steht? Wenn sie einen Unfall hatte? Wenn sie versucht, mich telefonisch zu erreichen? Gerade jetzt? Ich angle nach meinem Handy in der Hosentasche, es ist längst ertrunken. Ich schwanke im Wasser wie ein Halm.
    Was, wenn sie nach der Arbeit nicht nach Hause gekommen ist, sondern den Neuen getroffen hat? Wenn sie meinen Zettel nicht gelesen hat? Dann kann sie gar nicht kommen.
    Was mache ich dann?
    Dann gehe ich zurück, beschließe ich. Ich klettere hinaus. Ich gehe nach Hause. Ich tue, als ob nichts gewesen wäre. Und mache es ein anderes Mal. Wie viel Zeit gebe ich ihr? Eine viertel Stunde? Eine halbe Stunde? Eine Stunde. Ich werde erfrieren.
    »Eddyyy!«, höre ich ihre Stimme hinter mir rufen.
    Endlich! Erleichtert ramme ich meine Füße in den Boden. Eine Last fällt von mir ab, schwer wie ein Eimer voller Wasser. Ich stoße meinen Atem aus, von dem ich nicht weiß, wie lange ich ihn angehalten habe.
    Es ist ihr nichts zugestoßen, sie ist nur spät dran, wie immer.
    Nur nicht umdrehen, sage ich mir, Strafe muss sein, lass sie zappeln, lass sie leiden, lass sie büßen, lass sie betteln, lass sie flehen ...
    »Eddyyyy!«
    Ihre Stimme klingt nicht eben verzweifelt? Warum reißt sie sich nicht die Kleider vom Leib und kommt hinter mir hergeschwommen, um mich zu retten? Im Gegensatz zu mir kann sie schwimmen. Warum ruft sie nicht um Hilfe? Warum ruft sie nicht: »Komm zurück!«
    Ich drehe mich um.
    Sie ist nicht allein. Dieser Mann, dieser Chef, dieser Filialleiter, dieser Neue in ihrem Leben, er steht neben ihr, als gehöre er zu ihr.
    Sie streckt beide Arme nach oben, in jeder Hand einen meiner Stiefel, mit denen sie winkt, nicht aufgeregt flatternd, sondern langsam von links nach rechts, von rechts nach links, wie ein Reisender an Bord eines vorüberziehenden Schiffes.
    »Lebewohl!«, höre ich sie rufen, und ein dünnes Echo verliert sich über dem Maar.
    Was ruft sie da? Ich beginne den Halt im Wasser zu verlieren.
    »Lebewohl!«
    Meine Beine werden nach oben getrieben. Ich rudere mit den Armen, eine Welle läuft mir in den Mund.
    Sie lässt die Stiefel sinken und zuckt mit den Schultern. Der Neue legt einen Arm schützend um sie. Sie lehnt ihren Kopf an seine Schulter. Durch ihren Körper geht ein Zucken, sie weint. Er tröstet sie und drückt sie an sich. Mit letzter Kraft hebt sie noch einmal die Hand und winkt mit dem linken Stiefel.
    »Ich versteh dich ja!«
    Fassungslos starre ich ans Ufer. Meine Gedanken überschlagen sich. Wenn sie gegangen sind, werde ich hinausklettern und untertauchen. Ich werde irgendwo versuchen, alles zu vergessen und ein neues Leben zu beginnen. Sie sollten bald gehen, ehe ich an Unterkühlung sterbe.
    Aber das in Trauer vereinte Paar geht nicht weg, es setzt sich auf die Bank, faltet die Hände im Schoß und wartet geduldig wie auf einer Beerdigung, fest entschlossen, mir in meiner letzten Stunde beizustehen.
    Da wird mir klar, dass ich keine Wahl habe, wenn ich auch nur einen letzten Funken Würde und Ehre in mir trage.
    Mein Gesicht ihnen zugewandt gehe ich langsam in die Knie. Das Wasser steigt über mein Kinn, meinen Mund, meine Nase, meine Augen, meine Stirn. Ich hebe den linken Arm und winke. Halbblind starre ich gegen das trübe Wasser des Maars.
    Ich winkle meine Beine an und lasse mich auf den Grund fallen. Über mir steigen Luftblasen auf. Eine ungewohnte Zufriedenheit durchströmt mich, eine Genugtuung. Als ich lächle, laufe ich voller Wasser. Egal. Mein Part ist in der Geschichte der
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