Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes
Autoren: Martin Suter
Vom Netzwerk:
verstehst.«
    »Ändert sich etwas?«
    »Nein. Aber für die meisten besteht darin der Erfolg.«
    Blank grinste. »Ich sag’s ja: Ihr Psychiater helft den Menschen nicht, sich zu ändern. Ihr helft ihnen, sich damit abzufinden, daß sie gleich bleiben.«
    Als Blank in die Kanzlei zurückkam, bedeutete ihm die Telefonistin, daß Dr. Fluri am Apparat sei. Er ging in sein Büro und nahm das Gespräch an.
    Später kam Christoph Gerber mit den Ausdrucken der überarbeiteten Verträge herein. Blank war immer noch am Telefon. »Überhaupt kein Problem«, sagte er zuvorkommend, »dazu sind wir schließlich da. Auf Wiedersehen.«
    »Herr Dr. Arschloch«, fügte er hinzu, als er aufgelegt hatte.
    Urs und Evelynes gemeinsame Wohnung lag in einem herrschaftlichen Haus aus den zwanziger Jahren auf dem Villenhügel am Stadtrand. Sie bewohnten das ganze Erdgeschoß, dessen französische Fenster sich auf eine gepflegte Rasenkuppel öffneten. Von dort aus überblickte man die Stadt und einen Teil des Sees. Die Wohnung besaß vier große Gesellschaftsräume. Wohn- und Eßzimmer teilten sie sich, das Musikzimmer war Evelynes Reich und die Bibliothek das von Urs. Jeder besaß ein Schlafzimmer mit eigenem Bad. Eine Grundbedingung für das erfolgreiche Zusammenleben zweier erwachsener Menschen, fand Evelyne.
    Die Wohnung verfügte über eine große Küche mit Anrichteraum und Vorratskammer und über viele technische Räume wie Bügelzimmer, Nähzimmer, Putzraum, Waschküche und Blumenzimmer. Die kleine Personalwohnung mit separatem Eingang war unbewohnt. Urs und Evelyne benutzten sie als Gästezimmer und Fitneßraum. Sie hatten keine festen Hausangestellten. Aber sie beschäftigten eine Putzfrau, die fünfmal die Woche vormittags kam. Und eine Frau, die sich um die Wäsche kümmerte und bügelte. Bei größeren Einladungen ließen sie eine Köchin kommen.
    Als Urs den Mantel an die Garderobe hängte, fiel die Packung Räucherstäbchen auf den Boden. Er hob sie auf und nahm sie mit in die Bibliothek. Dann ging er in die Küche und machte sich einen Salat. Er schnitt etwas Bündnerfleisch an der Schneidemaschine, schenkte sich ein Glas Rotwein ein und aß am Personaltisch im Anrichteraum sein Abendessen. Evelyne würde spät kommen, hatte sie im Büro ausrichten lassen. Sie war bei einem Anlaß. Er hatte vergessen, bei was für einem.
    Er füllte sein Glas und ging damit in die Bibliothek. Dort kamen ihm die Räucherstäbchen wieder in die Hände. Er öffnete die Packung, zog eines heraus und roch daran. Woran erinnerte ihn der Duft?
    Er legte das Stäbchen in einen Aschenbecher auf dem Kaminsims und zündete es an. Langsam füllte sich der Raum mit dem Duft von Sandelholz. Er setzte sich in einen Sessel, nippte am Wein und schloß die Augen. Jemand in seiner Jugend hatte so gerochen. Ein Mädchen.
    Er versuchte, sich das Gesicht, das zu diesem Duft gehörte, in Erinnerung zu rufen. Aber es gelang ihm nicht. Immer wieder kam ihm das Mädchen mit den blaßblauen Augen dazwischen.
    Urs wurde von Evelynes Stimme geweckt. »Was stinkt hier so?«
    Am nächsten Tag ging Urs Blank wieder zum kleinen Park. Aber er war leer bis auf zwei Männer in Overalls, die eine Rabatte mit Stiefmütterchen bepflanzten. »Weshalb ist heute kein Flohmarkt?« erkundigte er sich beim Älteren der beiden.
    »Immer mittwochs«, antwortete der, ohne aufzuschauen. »Seit Jahren.«

2
     
    Lucille fror. Sie trug gestrickte Pulswärmer und hatte wollene Ballettstulpen über ihre Strümpfe gezogen. Wie im Winter. Dabei war es Ende März. Am letzten Mittwoch hatte es noch ausgesehen, als komme der Frühling. Sie hatte sich schon zwei Zimttees geholt und eigentlich Lust auf einen dritten. Damit wäre sie dann – Standgebühr und Transportspesen inbegriffen – zwölf Franken im Minus. Es bestand wenig Hoffnung, daß sich diese Bilanz noch entscheidend verbessern würde. An Tagen wie diesem kauften die Leute weder indische Seidentücher noch Räucherstäbchen.
    Lucille besaß den Stand schon seit drei Jahren. Sie hatte ihn von ihrem damaligen Freund übernommen. Mit ihm reiste sie zweimal im Jahr nach Indien und Indonesien und kaufte dort für ein halbes Jahr ein. Sie war dreiundzwanzig, als er beschloß, dort zu bleiben. Sie flog alleine zurück. Am Anfang kaufte er noch für sie ein. Aber inzwischen hatte Lucille ihre eigenen Quellen.
    Der Stand ermöglichte ihr, zu überleben und ab und zu nach Asien zu reisen, wo sie nach ihrer Überzeugung in einem früheren Leben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher