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Die drei Hellwang-Kinder

Die drei Hellwang-Kinder

Titel: Die drei Hellwang-Kinder
Autoren: Horst Biernath
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krüppelig gewesen wäre.
    Britta war genau das Kind, von dessen Art sich junge Frauen im ersten Ehejahr ein volles Dutzend wünschen. Britta fremdelte nicht, sie war nicht weinerlich, Britta aß jede Mahlzeit bis zum letzten Löffel, sie aß sogar Spinat. Sie schrie nicht beim Baden, und sie wusch sich später wahrhaftig ohne besondere Aufforderung den Hals. Sie war mit einem Jahr sauber und fürchtete sich weder vor frischbezogenen Betten noch vor neuer, kühler Wäsche. Ihre Tugenden wären fast beängstigend gewesen, wenn ihnen nicht zwei Ausgleichsgewichte gegenübergestanden hätten, ihre Verträumtheit, die manchmal die Form einer leichten Schlafkrankheit annahm — und ihr Maltalent. Wahrscheinlich hätten andere Eltern ihre erstaunliche Begabung, zu zeichnen und zu aquarellieren, freudig begrüßt und diese talentierte Tochter als eine Art Wunderkind stolz herumgereicht. Im Hause >Gode Wind< wurde ihre Gabe beinahe als Unglück betrachtet, und die Aussicht, Britta könne eines Tages mit dem Wunsch herausrücken, sie wolle Malerin werden, konnte Hellwang nur sorgenvolle Seufzer entlocken. Ihm genügte es, daß einer in der Familie einen freien Beruf ausübte. Seinen Kindern wünschte er sicherere Existenzen.
    Nun, Luisa hatte den Wunsch nach dem vollen Dutzend noch im zweiten Jahr ihrer Ehe nicht auf gegeben. Bis dann Lydia auf die Welt kam. Da nahm sie sich für das Söhnchen eine Bedenkzeit von vier Jahren. Denn Lydia war ein kleiner Teufel, und das war sie vom ersten Augenblick ihres Daseins an. Ihre Taten führten Hellwang, der Luisa und sich selber frei von jeder Schuld fühlte, zu einem intensiven Studium der Ahnenforschung nach der Hellwangschen und Bendigschen Seite hin. Und er entdeckte tatsächlich einen Hellwang, Jörg mit Rufnamen, der zu Lübeck im siebzehnten Jahrhundert mit dem Richtschwert ins Jenseits befördert worden war, wegen Umsturzplänen und der Vorbereitung eines Pulveranschlages gegen den Hohen Senat der Freien und Hansestadt. Ein Tröpfchen von dessen unruhigem Blut rumorte also in Lydia und flüsterte ihr die Stichworte zu ihren Lügen ein, kitzelte ihre naschsüchtige Zunge, zwackte ihre Finger so lange, bis sie die Doppelschlüssel von Anrichte und Speisekammer ergatterten — oder die Zehnerl aus Luisas Börse —, und dieser Aufrührer Jörg war es wohl auch, der ihr die kühnen Ausreden und Antworten in den Mund legte, um die sie nie verlegen war.
    Britta war blond und rosig. Wenn sie schlief oder lächelte, schimmerte noch immer etwas von dem strahlenden Säugling durch ihre Züge hindurch, der einmal das Entzücken der ganzen weiblichen Verwandtschaft gewesen war. Ältere Damen stießen bei ihrem Anblick kleine Schreie der Bewunderung aus und sprachen unfehlbar von Raffael und seinen himmlischen Engelsköpfchen. Bei Lydias Anblick schrie niemand vor Entzücken auf. Sie hatte eine bräunliche Haut und dunkle Haare, die sich allnächtlich zu undurchkämmbaren Knoten verzottelten. Zwischen unwahrscheinlich langen Wimpern, die sich wie die seidigen Flügel von schwarzen Faltern senkten und lange Schatten warfen, leuchteten zwei Augen, deren Farbe die Skala von märchenhaftem Veilchenblau bis zu tiefster Samtschwärze durchlaufen konnte, und man schaute in unergründliche Tiefen. Es waren bezaubernde Augen, und Lydia wußte, daß sie ihre Umwelt bezaubern konnte. Zu Zeiten ihres Ahnherrn Jörg wäre sie unfehlbar auf dem Scheiterhaufen als Hexe verbrannt worden. Sie war faul und verspielt und traf beim Einmaleins nur selten die richtigen Ergebnisse, aber wunderbarerweise brachte sie immer gute Zeugnisse nach Hause, und ihre Lehrer lobten sie über den Schellenkönig. Sie war langaufgeschossen, aber ihr Köpfchen saß über dem Stengelhälschen auf einem fast erschreckend zarten und mageren Körper, an den ständig ungeheure Mengen von Lebertran, Malzextrakt und Eisenpräparaten gänzlich nutzlos verschwendet wurden. Sie bekam keinen Pfennig Geld in die Hand, und die Schränke, in denen Luisa Süßigkeiten verwahrte, wurden siebenmal gesichert. Dennoch kam Lydia zu jeder Mahlzeit bonbongesättigt an den Tisch, und wenn Hellwang eine der geheimnisvollen Quellen, die Lydia mit Himbeerbonbons, Schokoladeneis, gefüllten Waffeln und Lakritzenstangen speisten, entdeckte und rigoros zuschüttete, erschloß sie sich fünf neue. Dagegen halfen weder Verbote noch Strafen.
    Da stapfte sie nun, während die Beine wie Hölzchen in den weiten Schäften der Gummistiefel staken, in dem
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