Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel
Autoren: Colleen McCoullough
Vom Netzwerk:
Rain. Ich habe immer gezweifelt. Vielleicht werde ich auch in Zukunft immer zweifeln.«
    »Oh, Herzchen, hoffentlich nicht! Für mich kann es nie eine andere geben. Nur dich. Das wissen alle seit Jahren. Aber Liebesworte bedeuten nichts. Tausendmal am Tag hätte ich dir versichern können, daß ich dich liebe - deine Zweifel hätte das nicht beseitigt. Und so habe ich meine Liebe nicht gesprochen, Justine, ich habe sie gelebt. Wie konntest du deinen Treuesten der Getreuen nur so anzweifeln?« Er seufzte. »Nur gut, daß mir am Ende deine Mutter geholfen hat, wo ich mir selbst nicht mehr helfen konnte, nicht unmittelbar.«
    »Armer Rain, ich muß deine Geduld wirklich bis zum letzten, bis zum allerletzten strapaziert haben. Sei bitte nicht traurig, daß es Mums Eingreifen bedurfte, um mir die Augen zu öffnen. Das ist jetzt ganz gleichgültig. Hauptsache, sie sind offen. Und bin ich nicht vor dir niedergekniet, wirklich ganz in Sack und Asche!?« »Na, gottlob«, sagte er, und seine Stimme klang plötzlich recht vergnügt. »Sack und Asche werden die heutige Nacht kaum überstehen. Morgen bist du bestimmt wieder springlebendig.« Ihre innere Anspannung begann abzuklingen. »Was ich an dir so besonders mag - nein, liebe -, das ist, daß du es so verstehst, mich in Atem zu halten. Wie machst du das nur?«
    Er lächelte. »Nun, Herzchen. In Zukunft wirst du nun ja mehr Gelegenheit haben, mich unter Beobachtung zu halten. Vielleicht kommst du mir dann auf die Sprünge.« Er küßte ihre Stirn, ihre Augen, ihre Wangen. »Ich würde dich jedenfalls nicht anders haben wollen, als du bist. Nicht eine Sommersprosse, nicht eine einzige von deinen grauen Zellen.«
    Sie schlang die Arme um seinen Hals, vergrub ihre Finger in seinem dichten Haar - ein wunderbares Gefühl. »Oh, wenn du wüßtest, wie sehr ich mich danach gesehnt habe!« sagte sie. »Ich habe es nie vergessen können.«
    Der Text des Telegramms lautete:
    BIN SOEBEN FRAU MOERLING HARTHEIM GEWORDEN STOP PRIVATZEREMONIE IM VATIKAN STOP PÄPSTLICHER SEGEN RUNDUM STOP ALSO WIRKLICH VERHEIRATET AUSRUFUNGSZEICHEN KOMMEN SOBALD WIE MÖGLICH ZU VERSPÄTETEN FLITTERWOCHEN NACH DROGHEDA STOP ABER EUROPA IST HEIMAT STOP LIEBE GRÜSSE AN ALLE AUCH VON RAINER STOP JUSTINE. Meggie legte das Telegramm auf den Tisch und blickte mit großen Augen durch das Fenster auf die üppige Pracht der Herbstrosen im Garten. Und da war mehr, so viel mehr: Hibiskus, Lampenputzerbaum, Geister-Eukalyptus, Bougainvillaea und, nicht zuletzt, die Pfefferbäume. Wie schön war der Garten doch, wie lebendig! Und immer wieder saß man und beobachtete, wie Winziges wuchs und groß wurde und sich wandelte und wieder verging, in endlosem, immer wieder in sich selbst mündendem Kreis.
    Und so wurde es auf Drogheda auch Zeit, daß sich ein anderer Kreis erneuerte: mit frischem Blut, mit Unbekannten, mit Fremden, noch Fremden. Es würde sich finden, ja, irgendwie würde es sich finden. Was mir geschehen ist, dachte sie, habe ich mir selbst angetan. Niemand sonst trägt daran Schuld. Und ich - ich kann keinen einzigen Augenblick bedauern.
    Der Vogel mit dem Dorn in der Brust, er folgt einem unwandelbaren Gesetz. Was ihn dazu treibt, sich selbst zu durchbohren und singend zu sterben, er weiß es nicht. Im selben Augenblick, da der Dorn in ihn eindringt, ist er sich des kommenden Todes nicht bewußt. Er singt nur und singt, bis kein Leben mehr in ihm ist. Aber wir, die wir unsere Brust mit Dornen durchbohren, wir wissen. Wir verstehen. Und wir tun es dennoch. Wir tun es dennoch.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher